Der Zweite Messias
Viertel aufräumen wollen. Gleich fragen Sie mich noch, ob ich an Gott glaube.«
»Und? Glaubst du an Gott, Maria?«
»Nein. Schon lange nicht mehr.«
»Was hältst du von den Leuten im Vatikan?«
Maria schnaubte wütend. »Die halbe Welt hungert, und die leben wie die Fürsten. Soll ich Ihnen sagen, warum ich nicht mehr an Gott glaube? Weil ich Gott immer fragen wollte, warum er auf der Welt so viel Armut und Ungerechtigkeit zulässt.«
»Gott könnte uns dieselbe Frage stellen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Lassen wir es nicht zu, Maria? Jeder von uns? In unseren Herzen und Köpfen? Indem wir das Leiden anderer ignorieren und unsere Ohren vor ihren Schmerzensschreien verschließen? Indem wir unsere Mitmenschen nicht respektieren und nur an unseren eigenen Vorteil denken? Viel Leid wäre vermeidbar. Doch der Weg der Rechtschaffenheit hat einen hohen Preis, und nur Wenige sind bereit, diesen Preis zu zahlen.«
Maria runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, Pater …«
Becket legte behutsam eine Hand auf ihre. »Maria, ich könnte dir die tiefsten theologischen Gedanken über das menschliche Leiden anvertrauen. Ich könnte dir sogar erklären, wie Leid und Schmerz uns Gott näher bringen.«
»Und wie?«
»Weil unser eigenes Leid dazu führt, Mitleid zu empfinden. Und Mitleid macht uns menschlicher. Und menschlich zu sein erlaubt uns, die Freude der Liebe richtig zu empfinden. Ich könnte dir den Zweck unseres Daseins erklären, den Grund für unsere Existenz. Es ist der tiefste und doch einfachste Grund von allen. Um unsere Seelen zu erleuchten und uns für Gottes Geschenk an uns zu bedanken, seine ewige Liebe. Und täusche dich nicht, Maria, die Liebe ist ein Geschenk für alle Ewigkeit. Aber hast du heute Abend überhaupt Zeit, über so etwas zu diskutieren?«
»Wenn Sie mich pro Stunde bezahlen.«
Becket lächelte verhalten, doch plötzlich erstarrte er. Auf deranderen Straßenseite erblickte er den Mann in der Windjacke, der Jogginghose und den Turnschuhen. Er stand in lässiger Haltung vor einem dunklen Schaufenster. Die Wollmütze hatte er noch immer tief in die Stirn gezogen, aber er war jetzt so nahe, dass Becket glaubte, ihn zu erkennen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er war beinahe sicher, dass es Sean Ryan war, der ihn beschattete.
»Ich muss sofort weg von hier, Maria.«
»Stößt meine Gesellschaft Sie plötzlich ab?«
»Nein. Ich werde von einem Mann verfolgt. Er steht auf der anderen Straßenseite.«
»Welcher Mann?«
»Schau am besten nicht hin, sonst merkt er was. Er trägt eine dunkelblaue Regenjacke, Wollmütze, Turnschuhe und Jeans.«
Maria nippte von ihrem Campari, ehe sie einen Blick riskierte. Der Mann schaute in ein dunkles Schaufenster. Sie drehte sich wieder zu Becket um.
»Warum verfolgt er Sie? Haben Sie in die Kollekte gegriffen?«
»Ich wollte, es wäre so einfach. Ich muss diesen Mann unbedingt abhängen.«
Maria dachte nach. »Am besten, Sie versuchen es durch die Tür hinten im Café, an den Toiletten vorbei. Sie führt zu einer Gasse. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn der Mann versucht, Ihnen zu folgen, halte ich ihn auf. Das ist eine meiner leichtesten Übungen.«
»Danke.« Becket legte ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Behalte den Rest. Vielleicht kannst du dann verhindern, dass du wieder geschlagen wirst.«
Maria nahm die Geldscheine und runzelte die Stirn. »Offenbar haben Sie tatsächlich in die Kollekte gegriffen.«
»Nein, Maria. Ich hoffe, wir treffen uns einmal wieder.«Becket schrieb eine Telefonnummer auf eine Serviette und schob sie ihr zu. »Wenn jemand dich bedroht oder wenn du Angst hast, ruf an.«
»Was könnten Sie denn tun?«
»Alles, was in meiner Macht steht. Ich kann dir sogar helfen, dein Leben zu ändern, wenn du möchtest. Ich kann es dir nur anbieten, Maria. Die Entscheidung musst du selbst treffen.«
Sie zuckte mit den Schultern und musterte ihn skeptisch. »Wir werden sehen. Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch, auch wenn Sie ein bisschen sonderbar sind. Und diese Verfolgungsjagd macht mich misstrauisch.«
»Wieso?«
Maria seufzte. »Weil ich mich frage, wo ich Sie schon mal gesehen habe. Aber es will mir partout nicht einfallen. Waren Sie mal Stammkunde in den Massagesalons in der Nähe des Hauptbahnhofs?«
Becket unterdrückte ein Lächeln und zog seinen Hut ins Gesicht. »Ich fürchte nein. Du bist eine gute Frau, Maria.«
Sie lachte. »Seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Und jetzt verschwinden Sie.«
50.
Als
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