Der Zweite Messias
aufgestapelten Kisten vorbei. Eine Kiste war geöffnet und enthielt eine Sammlung kleiner Knochen und einen großen Tonkrug. Auf einem Etikett auf der Kiste stand: FE. »Sind das Tierknochen?«, fragte Mosberg.
Savage nahm zwei kalte Dosen Cola aus einer blauen Plastikkühlbox, die auf dem Boden stand, und warf Mosberg eine zu. »Nein, Menschenknochen. Ein Säugling, erstes Jahrhundert nach Christus. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, Sergeant. Wenn Archäologen hier graben, stoßen sie oft auf Menschenknochen wie diese hier. Vor Tausenden von Jahren war es üblich, tote Säuglinge in Tonkrügen zu begraben. Obwohl sie schon so lange begraben sind, verlangt der jüdische Glaube, dass wir die Grabungen unterbrechen und eine Trauerfeier veranstalten. Wenn sie aus einer jüngeren Schicht stammen als die, in der wir graben, und sie uns nicht interessieren, bekommen die Knochen ein Etikett mit der Aufschrift ›FE‹.«
Mosberg runzelte die Stirn und riss seine Dose auf. »Und was heißt das?«
»Das ist die Abkürzung für ›Fremdelemente‹. Wir klassifizieren sie als Tierknochen, damit wir die Grabungen fortsetzen und uns auf die Zeit konzentrieren können, die uns interessiert.«
»Ist das nicht Betrug?«
»Sicher, aber die Vorteile überwiegen die Kosten. Und die Behörde für Altertumsforschungen drückt ein Auge zu. Wäre das nicht der Fall, würde alles zum Stillstand kommen.«
Mosberg betrachtete einen winzigen, verwitterten Knochen, der wie eine Rippe aussah. »Wenn man sich überlegt, dass dieses Kind zur Zeit Christi gelebt hat. Unglaublich.«
Savage trank einen Schluck Cola. »Haben Sie schon Fortschritte gemacht, Sergeant?«
Mosberg hob den Blick. »Leider nicht. Wissen Sie, was mich interessieren würde? Warum hat Cane genau an der Stelle gegraben, wo er die Schriftrolle gefunden hat?«
»Im Feld vierzehn? Ganz einfach. Nagetiere.«
»Wie bitte?«
»Nagetiere – Ratten und Ziesel zum Beispiel –, aber auch wilde Hunde graben Tunnel in die Erde, um Schutz zu suchen. Das kann für die Archäologen ein Segen sein, weil die Tiere beim Graben einen kleinen Erdhügel aufwerfen. Manchmal haben wir Glück, und in dem Erdhügel liegen Münzen und Tonscherben oder andere interessante Dinge. Ein Erdhügel, den Jack im Feld vierzehn untersucht hat, enthielt Tonscherben aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Darum hat er beschlossen, dort zu graben.«
Mosberg machte sich ein paar Notizen. »Interessant. Darf ich fragen, wo Mr. Cane jetzt ist?«
Savage ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Das weiß ich genauso wenig wie Sie. Ich habe ihn gestern Nachmittag zum letzten Mal gesehen, hier im Camp.«
»Sie haben keine Ahnung?«
»Manchmal fährt er nach Jerusalem und besucht Freunde.«
»Welche Freunde?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann auch nur vermuten, dass er dorthin gefahren ist.«
Mosberg setzte sich Savage gegenüber auf einen Stuhl. »Ich hoffe, Sie verschweigen mir nichts, Mr. Savage.«
»Warum sollte ich?«
»Wie lange kennen Sie Jack Cane?«
Buddy Savage öffnete den großen, verbeulten Reisekoffer, nahm ein altes Fotoalbum heraus und legte es auf den Tisch. »Beantwortet das Ihre Frage?«
Mosberg blätterte in dem Fotoalbum. Auf vielen Fotos waren Savage und Jack bei archäologischen Grabungen an verschiedenen Orten abgebildet. Auf einigen Bildern sahen beide Männer wesentlich jünger aus. Sie mussten sich also schon eine ganze Weile kennen. Andere Fotos zeigten Savage mit einem Mann, der Cane ähnelte. Und auf einigen Bildern war eine attraktive, lächelnde Frau zu sehen, die ihre Arme um die beiden Männer schlang. »Das Paar, das Sie auf den Bildern sehen, waren Jacks Eltern. Sie starben vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall in der Nähe von Qumran. Ich nehme an, deshalb ist er hierher zurückgekehrt. Für Jack war das jahrelang eine Art Pilgerfahrt.«
»Warum?«
»Sind Ihnen die Romane des irischen Schriftstellers Oscar Wilde bekannt, Sergeant?«
Mosberg trank noch einen Schluck Cola und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht behaupten.«
»Er hat mal geschrieben: ›Das menschliche Herz kehrt immer wieder dorthin zurück, wo es am stärksten verletzt wurde‹, oder so ähnlich. Ich glaube, das trifft auch auf Jack zu. Die Ereignisse hier in Qumran haben ihn fürs Leben gezeichnet. Sie haben ihn geformt und den Mann aus ihm gemacht, der er heute ist.«
Mosberg klappte das Album zu und legte es auf den Tisch. »Interessant. Sie kennen Jack Cane also schon sehr
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