Der Zweite Messias
Kardinal Umberto Cassini eine Stunde später sein Büro verlassen wollte, um einen späten Termin wahrzunehmen, klingelte sein Handy. Auf dem Display standen Ryans Name und Telefonnummer. Cassini meldete sich sofort. »Wo sind Sie, Sean? Was gibt es für Neuigkeiten?«
»Ich bin gerade in den Vatikan zurückgekehrt. Tut mir leid, aber der Onkel ist mir entwischt. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, hat er im Rotlichtviertel mit einer Frau, die wie eine Prostituierte aussah, etwas getrunken.«
»Sie machen Scherze.«
»Ich wollte, es wäre so. Ich habe gesehen, dass unser Onkel ihr ein Bündel Geldscheine gegeben hat. Anschließend ist er verschwunden, und ich habe ihn aus den Augen verloren.«
»Wir wissen also nicht, wohin er sonst noch gegangen ist?«
»Nein, aber jetzt ist er wieder zurück. Der Sicherheitsdienst am Osttor hat gesehen, dass er vor fünf Minuten aus einem Taxi gestiegen ist.«
»Dieses Katz-und-Maus-Spiel ist lächerlich«, sagte Cassini gereizt. »Hat der Sicherheitsdienst das Kennzeichen notiert? Vielleicht können wir den Fahrer fragen, wo er unseren Onkel aufgenommen hat.«
»Tut mir leid, das Kennzeichen wurde nicht notiert.«
»Es wird Zeit, dass ich dieser Sache ein Ende bereite und vom Papst eine Erklärung für sein Verhalten verlange. Das ist absurd.«
»Halten Sie eine solche Auseinandersetzung für klug, Eminenz?«
»Klug oder nicht, ich muss es tun. Ich lasse nicht zu, dass dieses rücksichtslose Verhalten die Kirche in Verruf bringt.«
51.
Fünf Minuten später ging Cassini durch die langen Gänge zu den päpstlichen Gemächern. Es waren große Räume mit deckenhohen Eichentüren, roten Teppichen, glänzenden Marmorfliesen und funkelnden Kronleuchtern.
Auf einem der Gänge stand ein Schreibtisch im Stil Ludwig XIV. Cassini wusste, dass er ebenso wie die vielen anderen Antiquitäten, mit denen die Gemächer ausgestattet waren, oder wie die kostbaren Gemälde, die die Wände zierten, ein kleines Vermögen wert war. Er erinnerte sich an die kürzlich durchgeführte Rechnungsprüfung, bei der ein Nettowert des Vatikans von ungefähr einhundert Milliarden US-Dollar ermittelt worden war. Der Betrag war vermutlich noch vorsichtig angesetzt. Schließlich war der Vatikan der alleinige Eigentümer von Roms bedeutendster Immobilie.
Cassini wollte gerade an die massive Eichentür klopfen, als diese geöffnet wurde und John Becket in seiner schlichten weißen Soutane im Türrahmen stand. »Umberto, ich wollte Sie gerade zu mir rufen. Kommen Sie herein.«
Cassini, der auf diesen Empfang nicht vorbereitet war, betrat ein wenig besorgt die prachtvollen päpstlichen Räume.
Der Papst schlug die Tür zu und nahm eine ungewöhnliche Pose an, indem er die Hände in die Hüften stemmte. »Ich komme gleich zum Thema, Umberto. Sean Ryan hat mich heute Abend beschattet. Ich verlange eine Erklärung. War das Ihre Idee?«
Obwohl der Papst den Spieß umgedreht hatte, war Cassini empört. »Heiliger Vater, ich gestehe, es war meine Idee. Es ging dabei ausschließlich um Ihre Sicherheit. Und darf ich etwasanmerken? Man hat Sie dabei beobachtet, wie Sie das Rotlichtviertel betreten und einer Frau Geld angeboten haben. Was glauben Sie, was passiert, wenn ein Pressefotograf Sie erkennt und ein Bild von Ihnen knipst? Überlegen Sie, was für ein Skandal das wäre. Bei allem Respekt, Heiliger Vater, Sie wurden in Gesellschaft einer Prostituierten gesehen!«
»Ich glaube mich zu erinnern, dass Jesus ebenfalls Begegnungen mit Prostituierten hatte. Hätten Sie auch ihn deshalb kritisiert, Umberto?«
Cassini errötete und suchte nach einer Antwort. »Heiliger Vater, ich verstehe einfach nicht, warum Sie dieses Viertel aufsuchen mussten …«
»Das ist meine Sache«, erwiderte Becket in scharfem Tonfall. »Auch wenn ich der Papst bin, steht mir Privatsphäre zu. Und stellen Sie niemals in Frage, mit wem ich Umgang pflege, Umberto. Niemals.«
Cassini verärgerte der schroffe Unterton. »Wie Sie wünschen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass alles, was getan wurde, zu Ihrem eigenen Wohl und dem des Vatikans geschah. Es ist normal, dass Sicherheitsbeamte sich im Hintergrund aufhalten und dem Heiligen Vater folgen. Der Vatikan verfügt über Hunderte von Sicherheitskräften, die genau diese Aufgabe haben.«
»Dann wird es Zeit, dass ich ein paar Änderungen vornehme.« Der Papst spreizte die Hände und zeigte auf den prächtig ausgestatteten Raum. »Brauchen wir das alles wirklich, Umberto? Dieses
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