Der zweite Mord
sehr laut Musik. Ich habe mit ihnen geschimpft, der junge Mann ist gerade ausgezogen, aber davor habe ich auch mit ihm geschimpft. Wir haben eine Abmachung. Nach zehn drehen sie leiser. Meist halten sie sich dran.«
»Und das tat Linda Svensson gestern Abend auch?«
»Ja. Sie drehte zwei Minuten nach zehn leiser. Später machte sie die Musik dann ganz aus und ging weg.«
»Um welche Zeit war das?«
»Etwa gegen halb zwölf.«
Irene spürte wieder diese innere Unruhe. Sie versuchte ihre Besorgnis zu verbergen und lotste die Frau vorsichtig weiter:
»Geht Linda oft so spätabends noch allein weg?«
»Manchmal geht sie mit Belker raus.«
»Belker?«
»Die Katze.«
Natürlich. Die Katze.
»Sie hat ein Halsband und eine Leine für sie«, erklärte Fräulein Berg.
»Kam sie denn gestern Nacht wieder nach Hause?«
»Ich habe nicht gehört, dass sie überhaupt wieder nach Hause gekommen ist. Wenn sie durch die Tür tritt, legt sie als Erstes eine Platte auf. Die Tageszeit spielt keine Rolle. Manchmal ist auch der Fernseher an. Gleichzeitig!«
Fräulein Berg schüttelte den Kopf, um zu zeigen, was sie von dieser Lärmbelästigung hielt. Da Irenes Zwillinge, zwei Mädchen, vierzehn waren, reagierte sie nicht weiter auf diese letzte Information.
Die alte Dame fuhr fort:
»Seit Fräulein Svensson letzte Nacht ausgegangen ist, habe ich aus ihrer Wohnung keine Musik mehr gehört noch irgendein anderes Geräusch. Ich habe sie auch nicht zurückkommen hören. Das kriege ich sonst immer mit.«
Daran zweifelte Irene keinen Augenblick. Ihr Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte, verwandelte sich in Gewissheit.
»Aus der Nachbarwohnung war also überhaupt nichts zu hören?«
»Nein. Das einzige Geräusch war das Maunzen der Katze. Er ist vermutlich hungrig. Der Ärmste.«
Irene versuchte, die Worte richtig zu wählen, um der alten Dame die Situation zu erklären:
»Es ist beunruhigend, dass Linda nicht wieder nach Hause gekommen ist. Ich muss wohl den Schlüsseldienst bestellen. Die sollen die Tür öffnen. Wir müssen schließlich dem armen … Belker helfen.«
Fräulein Berg nickte eifrig.
»Tun Sie das. Wirklich eine süße Katze. Etwas eigen, wie alle Siamkatzen.«
Irene wählte die Nummer der Einsatzzentrale.
»Einsatzzentrale. Inspektor Rolandsson.«
»Hallo. Irene Huss. Kripo. Wir haben eine Anzeige von einer Nachbarin erhalten wegen einer Katze, die schon den ganzen Tag schreit. Offensichtlich ist sie allein. Laut Nachbarin ist die Besitzerin der Katze seit gestern Nacht nicht mehr in der Wohnung gewesen. Sie ist auch nicht bei ihrer Arbeit erschienen. Ich muss in ihrer Wohnung nachsehen. Dazu brauche ich den Schlüsseldienst.«
»Okay. Wer hat die Anzeige erstattet?«
Irene nahm den Hörer vom Ohr und zischte Fräulein Berg zu:
»Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Rut«, erwiderte Fräulein Berg konsterniert.
»Rut Berg«, sagte Irene in den Telefonhörer.
Sie gab Rolandsson die Adresse und beendete das Gespräch.
»Ich habe aber keine Anzeige erstattet!«
Rut Berg sah tief gekränkt aus.
»Ich weiß. Ich habe das gesagt, damit es schneller geht. Wegen Belker«, sagte Irene.
Die alte Dame war etwas besänftigt, als der Name der Katze fiel.
»Na gut. Meinetwegen. Aber ich sage nicht als Zeugin aus oder so was!«
Irene versicherte, dass das nicht nötig sein würde. Mit dem Daumen wies sie auf die dritte Tür neben der von Linda Svensson.
»Wer wohnt da?«, fragte sie.
Rut Berg schnaubte.
»Im Augenblick niemand. Dort wohnte ein älterer Herr, und der kam irgendwie nicht mehr so richtig allein zurecht. Der war unsauber. Machte hier und dort Sachen, die man nur auf der Toilette machen soll. Er kam nach Weihnachten in ein Altersheim. Jetzt soll die Wohnung renoviert werden, ehe sie wieder vermietet wird.«
Irene sah sich gezwungen, endlich die Frage zu stellen, die sie während des gesamten Gesprächs beschäftigt hatte:
»Liebes Fräulein Berg, nehmen Sie es mir nicht übel, aber darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«
Erst hatte es den Anschein, als wollte sie darauf nicht antworten, aber schließlich zuckte sie resigniert mit den Schultern und seufzte.
»In einem Monat werde ich einundneunzig. Aber niemand kommt, um mit mir zu feiern. Ich bin allein übrig geblieben. Alle anderen sind schon heimgegangen. Manchmal glaube ich, unser Herrgott hat mich vergessen.«
Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort:
»Jetzt habe ich nicht mehr die Kraft, noch länger zu stehen.
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