Der zweite Mord
wiederzukommen.
Im Schwesternzimmer der Station war die Unruhe spürbar. Schwester Ellen brachte zum Ausdruck, was alle dachten:
»Wenn gestern Nacht nicht diese Dinge passiert wären, wäre ich nicht so beunruhigt. Aber Linda ist noch nie zu spät gekommen. Natürlich muss es dafür eine Erklärung geben.«
Dabei ist mir wirklich nicht wohl, dachte Irene. Sie mussten Linda Svensson einfach aufspüren.
»Wo wohnt Linda?«, fragte sie.
»Warten Sie … Kärralundsgatan. Die Hausnummer steht im Adressbuch der Station.«
Die Schwester ging zum Schreibtisch und zog die oberste Schublade heraus. Sie hob verschiedene Papiere hoch, ehe sie fand, was sie suchte. Nach etwas Blätterei in dem kleinen schwarzen Buch stieß sie auf Lindas Adresse und schrieb sie auf ein Blatt Papier.
»Fahren Sie sofort? Ich meine … sie liegt vielleicht in ihrer Wohnung und ist krank.«
Irene nickte. Andersson räusperte sich.
»Fahr du mal hin. Ich bleibe hier, falls sie doch noch auftaucht. Wir sollten vielleicht auch bei den Notaufnahmen der Krankenhäuser anrufen.«
Schwester Ellen lächelte den Kommissar hold an und sagte:
»Ich hoffe, dass Sie das selbst machen können. Ich habe noch sehr viel zu tun. Gar nicht zu reden von allen Entlassungspapieren, die noch auszufüllen sind.«
Sie rauschte aus dem Schwesternzimmer, ehe Andersson noch etwas sagen konnte. Irene verzog den Mund zu einem viel sagenden Lächeln, hob die Hand zum Abschied und verschwand ebenfalls durch die Tür.
KAPITEL 5
Niemand öffnete. Irene Huss hatte das auch nicht erwartet. Trostlos hallte die Klingel unzählige Male in der Wohnung wider. Sie bückte sich und sah durch den Briefkastenschlitz. Ihr Blick traf auf ein Paar weit aufgerissener türkisblauer Augen, gleichzeitig hörte sie ein lautes Fauchen. Irene prallte förmlich zurück, sodass die Klappe des Briefkastens zuknallte.
»Miau!«, erklang es beleidigt hinter der geschlossenen Tür.
Irene musste lachen und drehte sich sicherheitshalber auf dem Treppenabsatz um. Niemand hatte sie gesehen. Dass eine Vertreterin der Ordnungsmacht fast einen Herzschlag bekam, wenn sie eine Siamkatze sah, war nicht besonders Vertrauen erweckend.
Die Katze brachte sie auf eine Idee. Auf dieser Etage waren zwei weitere Wohnungstüren. Niemand öffnete, als sie rechts von Linda Svensson klingelte. Resolut drückte Irene auf die Klingel der Tür zur Linken. Auf dem Namensschild stand »R. Berg«. Von innen ließen sich schlurfende Schritte vernehmen, und eine ältere Frau rief mit dünner Stimme:
»Wer da?«
Irene tat ihr Bestes, so freundlich wie möglich zu klingen:
»Ich bin von der Polizei. Inspektorin Irene Huss.«
Sie hielt ihren Ausweis vor den Spion. Offenbar glaubte ihr die Dame, denn Schlösser und Sicherheitsketten begannen zu klappern und zu rasseln, und die Tür wurde vorsichtig einen Spalt weit geöffnet. Irene beugte sich vor und versuchte, ungefährlich auszusehen.
»Guten Tag, Frau Berg …«
»Fräulein. Fräulein Berg.«
»Entschuldigung. Fräulein Berg also. Jemand hat Anzeige erstattet, dass eine Katze hier in der Nachbarwohnung ganz erbärmlich schreit.«
Die Tür wurde ganz geöffnet, und die Wohnungsinhaberin war jetzt vollständig zu sehen, viel war das nicht. Sie war nicht einmal ein Meter fünfzig groß. Das dünne, weiße Haar trug sie in einem Pferdeschwanz. Sie war gebeugt und mager. Ihre ganze Gestalt wirkte irgendwie durchsichtig. Eine dünne Hand mit blauen Adern ruhte zitternd auf der Türklinke. Dasselbe schwache Zittern setzte sich in ihrem Körper fort.
»Ich habe nicht angerufen. Aber natürlich habe ich die Katze gehört. Die maunzt schon seit heute früh. Aber das stört mich nicht. Ich kann schon seit langem nicht mehr schlafen.«
Die Stimme war erstaunlich klar und fest.
»Sie haben die Besitzerin der Katze nicht gesehen oder gehört?«, fragte Irene.
»Nein. Fräulein Svensson ist Krankenschwester in der Löwander-Klinik und hat unregelmäßige Arbeitszeiten«, informierte sie die Dame.
»So ist das also. Wann war sie zuletzt zu Hause?«
Das kleine zerfurchte Gesicht legte sich in noch tiefere Falten, so konzentriert dachte sie nach. Nach einigen Sekunden breitete sich auf ihm ein so großes Lächeln aus, dass der obere Rand der Zahnprothese zum Vorschein kam.
»Das war gestern Abend.«
Fräulein Berg machte eine kurze Pause, um den Plastikgaumen wieder in Position zu bringen. Dann fuhr sie fort:
»Gestern war sie zu Hause. Spätabends. Sie hört immer
Weitere Kostenlose Bücher