Der zweite Mord
Wahrscheinlich war es kaputtgegangen, als es zu Boden fiel. Sie gab auf. Das führte zu nichts. Irene machte das Licht im großen Zimmer aus und ging in die Diele. Als sie die Hand hob, um das Licht auszuschalten, fragte sie sich noch beiläufig, wo Belker sich eigentlich versteckt haben könnte. Im nächsten Moment wusste sie die Antwort. Nach einem Tigersprung von der Hutablage saß er wie eine wütend fauchende Baskenmütze auf ihrem Kopf. Mit der ganzen Kraft, die eine enttäuschte kleine Siamkatze in ihre winzigen Pfoten legen kann, verkrallte sie sich unter ihrem Kinn. Das tat fürchterlich weh, und Irene fasste instinktiv nach den Vorderbeinen der Katze. Ein glühender Schmerz fuhr durch ihr rechtes Ohr, als Belker seine messerscharfen Zähne darin vergrub.
»Meine Güte. Das sieht wirklich nicht schön aus.«
Schwester Ellen schüttelte teilnahmsvoll den Kopf, während sie damit fortfuhr, Irenes Wunden zu reinigen. Im linken Oberarm pochte es nach der Tetanusspritze, aber das merkte sie kaum vor Schmerzen am Ohr und unterm Kinn. Dr. Löwander trat ein und versuchte sie aufzumuntern.
»Das verheilt ohne Narben. Aber Sie müssen Penicillin nehmen. Ich schreibe Ihnen ein Rezept aus. Die Apotheken haben jetzt allerdings schon geschlossen. Wir geben Ihnen ein paar Tabletten aus dem Medizinschrank mit.«
Er ließ sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken und fischte einen Rezeptblock aus der Schublade. Ehe er zu schreiben begann, rieb er sich müde die Augen und lächelte Irene entschuldigend an.
»Ich bin jetzt schon seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Und dann die Sache mit Schwester Marianne. Und dass Linda verschwunden ist … Ich bin todmüde.«
Irene fand ihn äußerst attraktiv, obwohl die Müdigkeit tiefe Falten um Augen und Mund gegraben hatte. Die Jahre hatten in seinem dunklen Haar ein paar charmante silberne Strähnen an den Schläfen und über der Stirn hinterlassen. Wie ungerecht, dachte Irene, Frauen werden grau und Männer distinguiert. Sie hatte den entschiedenen Eindruck, dass ihre eigene Haarfarbe inzwischen mehr an Stahlwolle erinnerte. Noch ein Jahr, dann war sie vierzig. Es war wirklich höchste Zeit, dass sie mehr an ihr Aussehen dachte. Sie nahm sich vor, bereits am nächsten Tag bei ihrer Friseuse anzurufen, um sich einen Termin zum Haareschneiden und Tönen geben zu lassen.
Sverker Löwander schrieb ein paar Krakel auf den Rezeptblock und riss dann das Blatt ab. Lächelnd überreichte er es Irene. Seine Augen waren müde und blutunterlaufen, aber die Pupillen erstrahlten in einem wunderbaren Meeresgrün. Spontan sagte Irene:
»Ich kann Sie nach Hause fahren. Für mich ist es auch höchste Zeit! Sie werden ja nicht wollen, dass ich überall in der Stadt herumlaufe und erzähle, dass ich direkt aus der Löwander-Klinik komme …«
Sie deutete auf ihr Gesicht, auf dem einige Kompressen klebten. Vor allen Dingen ihr rechtes Ohr sah komisch aus. Es schaute ordentlich in eine Kompresse verpackt und zugepflastert zwischen ihren Haaren hervor.
»Das wird alles sehr gut verheilen. Und es wäre mir sehr recht, wenn Sie mich fahren könnten«, sagte er.
Kommissar Andersson kam gemächlich durch die Tür geschlendert, als Sverker Löwander sich gerade fertig machen wollte.
»Zeit zum Nachhausegehen?«, fragte der Kommissar.
Löwander nickte. Ehe er durch die Tür verschwand, drehte er sich zu Irene um und sagte:
»Sie können hier warten. Ich ziehe mich nur eben um.«
Der Kommissar hob viel sagend die Augenbrauen, als der Arzt verschwunden war.
»So so. Machst du mit dem Doktor einen Ausflug?«, sagte er.
Verdammt, warum wurde sie nur rot? Sie riss sich zusammen und hoffte nur, dass die Kompressen die roten Flecken auf den Wangen verbergen würden.
»Ich dachte, dass ich die Gelegenheit dazu nutzen könnte, um mich mit ihm zu unterhalten. Er ist schließlich der Chef und muss sein Personal kennen.«
Andersson nickte.
»Ich habe mich mit ihm heute Nachmittag bereits unterhalten. Er sagt, dass er Marianne Svärd nicht näher kannte. Zum einen arbeitete sie nachts, zum anderen war sie wohl nicht der zwanglose Typ. Freundlich und tüchtig. Gewissenhaft, was die Arbeit angeht. Mehr hatte er nicht über sie zu sagen. Dagegen schien er wegen Linda Svensson sehr besorgt zu sein. Das ist vermutlich verständlich, wenn man bedenkt, was Marianne Svärd zugestoßen ist. Er hat Linda als fröhlich und tüchtig beschrieben. Sie kennt er besser, da sie tagsüber arbeitet.
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