Der zweite Mord
Sie haben gerade angerufen und gesagt, dass die Nachtschwester Grippe hat. Siv Persson ist immer noch krankgeschrieben. Was machen wir?«
Schwester Ellens rundes, freundliches Gesicht sah auf einmal ganz müde aus. Die Erschöpfung war auch aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Verdammt! Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich bald nicht mehr kann. Ich habe diese Woche bereits die zwei Schichten von Linda übernommen.«
Anna-Karin dachte schnell nach.
»Ich kann beim Källbergska anrufen und fragen, ob die jemanden im Pool haben, der einspringen kann.«
Vor Irenes innerem Auge tauchte plötzlich ein Schwimmbassin mit Krankenschwestern auf. Am Beckenrand standen die verzweifelten Angestellten der Personalabteilungen und abgearbeitete Pflegekräfte und fischten verzweifelt nach Leuten. Schwester Ellens gestresste Stimme holte sie jedoch schnell in die Wirklichkeit zurück.
»Entschuldigen Sie, Frau Huss. Ich muss los. Die letzten Pflaster können Sie sich selbst am Sonntag entfernen. Tschüss!«
Im nächsten Augenblick war Irene allein in dem kleinen Zimmer. Sie stand von der Pritsche auf, auf der sie gesessen hatte, und trat zum Fenster. Es ging auf den Park. Direkt unter ihr lag das Gebüsch mit dem Schuppen. Obwohl der Flieder vollkommen entlaubt war, konnte man nur das schwarze Dach aus Teerpappe erkennen. Das Nest von Mama Vogel war gut versteckt. Wahrscheinlich ging sie immer durch den Park dorthin. Irene schaute auf das Tannenwäldchen, das sie so gründlich durchsucht hatten. Dahinter lag ein Mietshaus, das drei Stockwerke hoch war. Sie konnte einige Autos sehen, die auf der Straße unterhalb davon vorbeifuhren. Sie führte über eine kleine Brücke über den Bach. Auf der anderen Seite der Brücke lag die Haltestelle der Straßenbahn. Wahrscheinlich nahm Mama Vogel allabendlich diesen Weg. Sie fuhr mit der Straßenbahn und stieg an dieser Haltestelle aus. Dann ging sie über die Brücke und quer durch den Park. Genau auf ihr Nest zu.
Sollten sie beim Schuppen Wache halten und sie abfangen? Wenn sie sie tagsüber nicht zu fassen bekamen, dann konnten sie vielleicht so mit ihr Kontakt aufnehmen. Aber das würde Zeit und Geld kosten, und die Dame hatte offenbar noch andere Stellen zum Unterkriechen. Und wenn sie jetzt mehrere Nächte hintereinander nicht auftauchen würde? Das mussten sie mit dem Kommissar besprechen, falls sie sie nicht anderswo fanden.
Tommy Persson war es geglückt, das Zimmer einer Sekretärin hinter dem Empfang in Beschlag zu nehmen. Hier fand ihn Irene. Er telefonierte und hatte vor sich einen voll gekritzelten Block liegen.
»Verlosen? Wie soll das gehen?«
Er lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung und sah gleichzeitig Irene an und verdrehte die Augen.
»Ach so? Und wie geht das, wenn sie keine Adresse haben? Ach nee. Mehr können Sie also nicht tun. Vielen Dank.«
Er knallte den Hörer auf die Gabel und seufzte resigniert.
»Das kann nicht wahr sein! Es gibt tatsächlich Menschen in unserer Gesellschaft, die es nicht gibt, weil sie ins Nichts wegverwaltet worden sind!«
»Wie das?«
»Ich habe bei verschiedenen Sozialämtern hier in der Stadt angerufen und gefragt, ob sie eine Mama Vogel kennen. Alle waren sehr hilfsbereit, bis es um ihren richtigen Namen, ihre Personenkennziffer oder Adresse ging. Da ich keine Einzige von diesen Fragen beantworten konnte, können sie mir auch nicht helfen. Wenn ich sage, dass sie wahrscheinlich obdachlos ist, wird der Ton sofort kühler. Obdachlos? Das ist schwieriger. Tut uns Leid. Und dann murmeln sie noch ein paar Floskeln und legen auf. Den Letzten, mit dem ich geredet habe, habe ich dann etwas genauer ausgehorcht, was sie mit Personen ohne festen Wohnsitz machen. Weißt du, was das Sozialamt mit ihnen tut?«
»Nein.«
»Sie werden unter den verschiedenen Stadtteilen verlost!«
»Verlost?«
»Genau. Mama Vogel kann beispielsweise an das Sozialamt in Torslanda verlost werden. Dann müssen sich die um ihr Wohlergehen kümmern. Aber wie soll sie das erfahren? Man kann ihr diese Mitteilung schließlich schlecht an irgendeine Adresse schicken. Ihre Adresse ist ein Schuppen im Park der Löwander-Klinik. Eigentlich genial. Man verlost die Verantwortung an eine Person, die den betreffenden Wohnsitzlosen nie getroffen hat. Diese Person ist nun auf dem Papier der Sachbearbeiter des Obdachlosen. Die Gesellschaft hat sich ihrer Verantwortung gestellt und dem Obdachlosen sogar einen eigenen Sachbearbeiter zugeteilt! Nur treffen sich
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