Der zweite Tod
sich, dass sie noch in Stockholm war. Er hatte nie nach ihr Ausschau gehalten, nie überprüft, was sie tat. In akademischen Buchgeschäften hatte er bei Regalen, die nach Autorennamen sortiert waren, schon bei Umberto Eco aufgehört, war mehrere Meter weit ausgeschritten und hatte erst bei »H« wie Hegel weitergemacht. Auch das »G« hatte er meist zur Sicherheit ausgelassen, so tief war seine Liebe gewesen. Deshalb hatte er Jan Guillou seit der IB-Affäre und Commander Hamilton auch völlig aus den Augen verloren. Saß der eigentlich noch im Gefängnis? Bei dem in seiner Vorstellung fortgeführten Lebenslauf hatte sich seit einiger Zeit die Frage ergeben, ob sie bereits Professorin war.
Das war alles nicht geschehen. Ida war Aushilfsverkäuferin in einer Fachbuchhandlung für Medizin, Rechtswissenschaft und Wirtschaft. Das waren, soweit er es beurteilen konnte, von allen Themen dieser Welt genau die drei, für die Ida sich nicht interessierte. Vier Tage die Woche. Freitags gab sie Nachhilfe, und manchmal schrieb sie für Studenten Abschlussarbeiten. Ida Florén bot Abschlussarbeiten in Mathematik, Physik und Philosophie an.
Ida hatte all das, was er sich selbst über sie erzählt hatte, damals durchaus ins Auge gefasst. Dennoch war sie erstaunt, dass er das angenommen hatte. Er fand jetzt, dass seine Annahmen dumm gewesen waren. Eigentlich war die Wirklichkeit damals schon klar gewesen. Ida musste gar nicht mehr ausbreiten, wie ihr Leben aussah. Es spielte sich in der Nacht ab, hier an diesem Tisch. Was sie dort las und schrieb, verstand er sowieso nicht.
Es war bestimmt nicht erfüllend für Ida, erwachsenen Menschen bei der Auswahl des richtigen Sonderanhangs zum Prozessrecht zur Seite zu stehen, aber die Tätigkeit ließ ihr viel Zeit, um hier an ihrem Tisch zu sitzen. Ein Notebook war seit damals dazugekommen und hatte die Schreibmaschine ersetzt.
Mit Männern hatte sie auch in den vergangenen zehn Jahren kein Glück gehabt. Er konnte sich getrost dazuzählen, aber Idas Verhalten ließ ihn vorsichtig glauben, dass sie das anders sah. Alles, was Ida zu verbuchen hatte, waren kurze Affären, die sich im besten Fall über eine Reihe von gemeinsamen Nächten erstreckten.
Sie deutete mit dem Zeigefinger zur Decke. »Oben ist jemand ermordet worden, oder?«
Er nickte und fragte sie, ob sie Petersson gekannt habe. Sie verneinte, aber sie habe ihn einmal oben bei John Osborne getroffen. »Er hat ganz oben sein Atelier. Er ist Amerikaner und mit einer Schwedin zusammen. Er pendelt immer zwischen New York und Stockholm.«
»Ist er erfolgreich?«
»Ja, sehr sogar. Frag doch Linda. Er braucht Stockholm zum Malen, behauptet er. Er arbeitet wie ich in der Nacht. Manchmal gehe ich hinauf, oder er kommt herunter. Wir trinken einen Kaffee zusammen und reden ein bisschen. Dann geht jeder wieder an die Arbeit. Einmal war ich am Abend so gegen zehn Uhr oben, um ein Buch zurückzugeben. Und Petersson saß bei ihm. Sie haben Whisky getrunken. Das muss so vor drei Wochen gewesen sein. Er sprach ausgezeichnet Englisch.«
»Weißt du etwas von Petersson?«
»Er sah mondän aus.«
»Er war Wissenschaftler.«
»Hat John auch erzählt. Sie haben über Kunst gesprochen.«
»Soweit ich das bisher sehen kann, hat er sich am Diskos von Phaistos versucht.«
»Bist du jetzt bei euch für die Diskos-Morde zuständig?«
Sie lachten. Er fand es gut, dass sie erst einmal über etwas Unverfängliches sprechen und sich aneinander gewöhnen konnten. Ida stand abrupt auf und ging wieder in den Flur. Er konnte sehen, wie sie gezielt ein Buch aus dem Regal zog.
»Nimm’s dir mit, das ist am besten.«
Er überflog den Klappentext. Das Buch fasste die Entzifferungsversuche der letzten fünfzehn Jahre zusammen und enthielt Tabellen mit den 45 Zeichen, die in der Inschrift vorkamen. Er überflog die Einleitung. Es gab so viele Theorien wie Forscher, die esoterischen Erklärungsversuche noch gar nicht mitgerechnet. Hatte man früher noch wie beim Mykenischen an eine Silbenschrift geglaubt, so gingen neuere Versuche oft von einer komplexen Bildschrift aus.
Kjell erinnerte sich an seine erste und letzte Reise nach Ägypten vor langer Zeit. Bei der Besichtigung des Tempels von Edfu war einer siebzigjährigen Hegelianerin aus Berlin aufgefallen, wie häufig eine Eule in den Inschriften auftauchte, diese Hieroglyphe stehe sicherlich für Geist und Weisheit, denn genau davon hatten die Ägypter ja bekanntlich ebenso viel besessen wie die
Weitere Kostenlose Bücher