Der zweite Tod
Zeit bei ihr äußerlich so stehengeblieben war, erstaunte ihn. Die Wohnung bestand aus einem Raum mit eingebauter Küche. Inzwischen gab es wohl ein separates Schlafzimmer, denn er konnte kein Bett entdecken. In der Mitte stand ein langer Tisch, dessen Nordseite dem Leiblichen diente, während die anderen zwei Drittel voller Bücher und Papiere waren.
Nichts hatte sich bei ihr verändert.
Vom letzten Satzzeichen einer Seite bis zur Kaffeemaschine waren es vier Schritte, früher waren es zwei gewesen.
Sie sprachen nicht. Ida wies ihm einen Platz am Tisch zu, als wäre es ganz normal, dass er mal vorbeischaute. Sie stellte sich an die Küchenzeile und setzte Kaffeewasser auf.
Er betrachtete den Block auf dem Tisch, an dem sie bis eben geschrieben haben musste. Ihre Handschrift war voll wechselhafter Weite und Dichte, mal flog sie mit dem Stift über das Papier, mal zögerte sie in nachdenklichen Schwüngen. Die Wände waren ungeschmückt, eine Pinnwand mit einem Flugblatt für ein Kirchenkonzert am Freitag. An einer Wand hingen Fotos, die mit Reißzwecken angebracht waren. Darauf waren Menschen abgebildet, die er nicht kannte. Er war nicht darunter.
»Und?«, fragte sie, während sie den Kaffee aufgoss. »Hast du schon etwas entdeckt, das du von früher kennst?« Sie drehte ihren Kopf kurz in seine Richtung. Ihr Lächeln war warm.
Wie sehr sie ihm gefehlt hatte.
»Bisher nur dich!«
Sein Blick fiel durch das Fenster auf den Hof, wo sich die Schneedecke über das Dach eines Schuppens wölbte. Er wünschte Ida und sich auch unter eine dicke Decke. Am besten jetzt gleich. Keiner konnte ermessen, wie es war, wenn eine Mittelalterhistorikerin und ein Altphilologe sich liebten.
Sie war schnell fertig mit dem Kaffee. Mit zwei Tassen setzte sie sich zu ihm an den Tisch, legte den Kopf schräg und warf die langen blonden Haare über die Schulter. Sie sah ihn kurz an und schniefte verschnupft.
»Es gibt noch die Schreibmaschine, aber jetzt steht sie im Keller.«
Er dachte an die Schreibmaschine, die damals schon alt gewesen war, und lächelte. Und die Nachbarn, die nachts schlafen wollten, lächelten bestimmt auch.
»Wie geht es dir?«, fragte er. »Bist du glücklich?«
Das war eine alte Neckerei, mit der er sie immer geärgert hatte.
»Ja und nein, Kjell. Das weißt du doch.«
Ihr Lächeln kam von sehr weit innen. Er versuchte, seinen Eindruck zu einem Kompliment zu formulieren, fand aber keines.
»Ich würde jetzt gerne rauchen«, gestand sie. »Stört dich das?«
Sie hingegen hatte ein schönes Kompliment gefunden. Erst jetzt sah er, wie aufgebracht sie war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geraucht hatte. Ida anscheinend auch nicht. Sie musste mehrere Schubladen aufziehen, bis sie Zigaretten fand.
»Ich würde eine mitrauchen«, sagte er.
Er wollte nichts lieber, als eine Zigarette zu rauchen.
Offenbar rauchte sie nur zu bestimmten Anlässen. Sie war fahrig in ihren Bewegungen. Zwischendurch erschien das kurze Grinsen, bei dem sie ihre Schneidezähne auf der Unterlippe abstellte. Dazu kniff sie auch kurz die Augen zusammen und zwinkerte ihm wie ein Lausbub zu. Früher hatte ihn diese Geste manchmal irritiert, denn sie kam so unvermittelt und brach das vorangegangene Gespräch ab wie ein Tennisspieler, der einfach vom Platz geht, während der Ball durch die Luft fliegt.
Das Rauchen tat ihnen gut. Zwischen zwei Zügen legte sie den Kopf nach hinten und sah ihn amüsiert an.
»Wie geht es Linda?«, fragte sie.
»Du würdest sie mögen. Sie ist das Gegenteil von dir.«
»Ich wette, sie malt den ganzen Tag.«
»Es ist genau so, wie du damals geglaubt hast.«
Ida ging nach nebenan und kehrte mit mehreren Bögen Papier zurück. Es waren Lindas erste Bilder. Ida und Madeleine hielten sich darauf an der Hand und waren Freundinnen. Linda und ihre Freundin hatten sich auch immer an den Händen gehalten, ihre gemeinsame Liebe zu Monchichis war die Basis für eine neunwöchige Freundschaft gewesen. Da war es eine ganz und gar logische Folgerung, dass man sich auch an der Hand halten wollte, wenn man denselben Mann liebte.
Kjell forderte Ida auf, die letzten zehn Jahre zu erzählen. Er hatte in dieser Zeit ihr Leben in seiner Vorstellung weitergeführt und erwartete, dass sich beide Lebensläufe decken würden. Als sie sich damals trennten, war Ida kurz davor, ihr Studium abzuschließen. Er war sicher gewesen, dass ihr akademischer Stern danach unaufhaltsam aufsteigen würde. Er wunderte
Weitere Kostenlose Bücher