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Der zweite Tod

Der zweite Tod

Titel: Der zweite Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Scholten
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war, ob hier jemand durchs Fenster hereinblicken konnte. Dann rollte sie ihren Schlafsack auf Carl Peterssons Parkettboden aus und schlüpfte hinein. Sie musste jetzt dranbleiben. Für solche Augenblicke war sie zur Polizei gegangen. Sie konnte sich nichts Aufregenderes vorstellen.

20
    Samstag, 1. Dezember
     
    Ida beugte sich über sein Gesicht und küsste ihn auf den Mund. Er schlug die Augen auf und sah, dass sie angezogen war.
    »Ich muss zur Arbeit«, flüsterte sie. »Jetzt ist es acht.«
    Er schlief wieder ein, bis ihn um elf Uhr sein schlechtes Gewissen weckte. Er hatte Linda nicht mehr angerufen. Er goss sich eine Tasse Kaffee auf und setzte sich an Idas Küchentisch, der so lang war, dass daran auch zwölf Jünger frühstücken könnten. Sie hatte ihm darauf eine kleine Halbarena zwischen den Büchern freigeräumt, in der er seine Tasse abstellen konnte.
    Nichts war schöner, als allein in der Wohnung einer Frau zu sitzen. Jeder Mann wusste das. Anders als Frauen litten Männer nicht an dem Zwang, in fremden Wohnungen eine Komplettinventur aller Räume durchzuführen, und konnten die enge Vertrautheit genießen, die sie mit der Liebsten verbindet, obwohl sie gar nicht anwesend ist. Ida hatte ihm Knäckebrot bereitgelegt, aber er war nicht hungrig. Er saß nur da. Hin und wieder nippte er an seinem Kaffee, bis nach einer Viertelstunde sein Telefon klingelte. Es war Barbro.
    »Du musst sofort herkommen. Wir haben Robert Sahlin gefunden!«
    Er sprang in seine Hose, verließ Idas Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Oben an der Treppe sah er Schuhe. Aus irgendeiner Ahnung blieb er stehen. Dann fiel es ihm ein. Er hatte diese Schuhe bezahlt.
    Linda!
    Sie ging so langsam, dass man nicht mehr ernsthaft von Gehen sprechen konnte. Die Finger ihrer rechten Hand streiften an der Wand entlang. Mitten auf der Treppe hielt sie inne, sah in seine Richtung, wandte den Blick wieder nach vorne auf die letzten Stufen. Vom unteren Ende der Treppe aus steuerte sie auf ihn zu. Nun konnte er ihr Gesicht sehen. War sie betrunken? Sie schwankte ja.
    Dann war sie bei ihm. Er breitete aus Reflex die Arme aus. Sie sank dankbar hinein und legte ihren Kopf an seine Schulter.
    »Hallo Papa.«
    Sie fühlte sich warm an. Ihre Stimme klang weich und klar. Betrunken war sie nicht.
    »Was ist los mit dir? Du bist ja nicht bei Sinnen.«
    Sie seufzte erneut.
    Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und blickte ihr in die Augen. »Wo kommst du denn her?«
    »Ich war oben, im Atelier.« Ihr Kopf sank wieder nach unten.
    Er stutzte. »Habt ihr bis jetzt gemalt?«
    Sie nickte, indem sie ihre Stirn an seiner Schulter rieb. Er sah auf die Uhr, es war kurz vor zwölf.
    »Bist du heute früh hin?«
    Sie legte den Kopf zurück und schüttelte ihn lächelnd. Ihr Lächeln hatte etwas Diabolisches. »Gestern.«
    Er fühlte wieder die Wärme, die von ihr ausging, eine gut gedämmte Bettwärme war das. Nein. Das wollte er nicht. Er wollte es zu dieser Erkenntnis nicht kommen lassen, doch er hielt seine schlaffe Tochter in den Armen und glaubte, jeden Quadratzentimeter von ihr auf seinem Körper zu spüren. Dieser Grad an Entspanntheit setzte eine Form der Vorarbeit voraus, die er nicht länger verdrängen konnte.
    Linda löste sich und blickte ihn aufrichtig an. Sie fragte nicht, was er hier tat. Alles schien selbstverständlich für sie zu sein. Wie immer.
    »Hat er dir etwas angetan?«
    Sie blickte ihn ernst und nach innen gekehrt an, als müsste sie die Ereignisse erst vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen, um diese Frage beantworten zu können. Er hatte den Eindruck, dass sie bei der ein oder anderen Station ins Stocken geriet. Schließlich verneinte sie mit einem schnellen Kopfschütteln.
    »Komm«, sagte er. »Ich bringe dich nach Hause.«
    Sie hob den Kopf. »Sei nicht bös, Papa. Ich möchte ein bisschen für mich sein. Ich fahre allein nach Hause. Ja?« Sie wartete seine Antwort nicht ab und wandte sich zur Tür. »Bis später«, rief sie und verschwand.
    Er blieb zurück und starrte ihr nach. Linda hatte sich noch nie in ihren Empfindungen stören lassen. Für die Dauer eines Geistesblitzes wollte er nach oben rennen und »aufräumen«. Doch er wartete an Ort und Stelle, bis ihr Vorsprung groß genug war, und verließ das Haus. Draußen schien die Sonne auf den frischen Schnee.
     
    »Wo hast du denn gesteckt?«, fragte Barbro und musterte argwöhnisch den braunen Anzug von gestern, in dem er immer noch steckte. Emelie spielte unter

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