Der zweite Tod
wurden. Für Sexualstraftäter hatten sie hingegen die sogenannte »Frauenhölle« entwickelt, bei der der Verhaftete nach Betreten des Präsidiums ausschließlich Frauen zu Gesicht bekam und sich während des Verhörs als einziger Mann mit sieben Frauen im Raum befand. Kjell brachte dann gerne auf Anforderung Unterlagen vorbei. Kaffee gab es für Vergewaltiger nur, wenn sie noch viel zu gestehen hatten.
Als Sahlin und Kjell sich Milch in ihren Kaffee füllten, entstand eine kurze Unterbrechung.
»Eine Ida Florén hat angerufen und nach dir gefragt«, flüsterte Barbro.
Kjell wandte sich Barbro eine Spur zu interessiert zu, als dass es jemand wie ihr hätte entgehen können. »Hat sie eine Nummer hinterlassen?«
Barbro kniff die Augen zusammen und prüfte ihn eingehend. Das tat sie ausgiebig, dann nickte sie langsam. Sie hatte Lunte gerochen. Ein erster Verdacht keimte in ihr.
Sahlins Stimme unterbrach ihr Blickgefecht. »Ida Florén aus meinem Haus? Wurde bei ihr auch eingebrochen?«
»Nein. Sie ist nur eine Zeugin.« Kjell betonte das Wort Zeugin.
»Arme Ida«, sagte Sahlin. »Aber jetzt geht es ihr ja besser.«
»Kennst du sie etwa?«
»Mhm«, summte Sahlin. »Wir sind Freunde. Ich habe sie im Sommer zweimal im Krankenhaus besucht. Vorher kannten wir uns nur aus dem Treppenhaus. Im Herbst verschlechtert sich meine Haut immer. Ida kam dann oft. Sie hat für mich eingekauft und Wäsche gewaschen.«
»Warum war Ida denn im Krankenhaus?«
Sahlins Blick wanderte zwischen Kjell und Barbro hin und her.
»Ich kenne sie privat«, versicherte Kjell. »Es ist nicht für die Ermittlung. Sie hat damit nichts zu tun.«
»Das war im Juni nach ihrem Selbstmordversuch.«
Erst zwei Stunden später wählte er ihre Telefonnummer, die Barbro auf einem Zettel notiert hatte. Ida hob nach dem zweiten Läuten ab. Sie klang fröhlich.
»Du hast daran gedacht, etwas bei mir zu vergessen«, behauptete sie. »Das Kabel für dein Telefon nämlich.«
»Das habe ich absichtlich gemacht«, log er.
»Ich hatte nur die Nummer von deiner Visitenkarte.«
Kjell gab ihr all seine anderen Telefonnummern und bat um ihre Mobilnummer.
»Ich habe gar keine. Ich liege im Streit mit der Telefongesellschaft. Als ich im Juni vergessen habe, die Rechnung zu bezahlen, haben sie das Telefon gleich gesperrt. Und da habe ich ihnen das ganze Telefon mit der Karte zurückgeschickt. Die Grundgebühr muss ich leider immer noch bis nächsten Sommer bezahlen.«
Im Juni also. Da hätte er Zeit gehabt. »Möchtest du sehen, wie ich wohne?«
»Wohnst du noch auf Söder?«
Das war lange her. Ida hatte er damals natürlich nie mit nach Hause bringen können. Es gab schließlich gewisse Grenzen.
»Reimersholme.«
»Lädst du mich ein?«
»Ja. Heute geht es leider nicht. Linda ist wahnsinnig geworden, und ich muss ihr Hausarrest geben, bis sie volljährig wird.«
»Wann ist das?«
»In drei Monaten.«
Ida lachte.
»In dieser Woche habe ich frei«, sagte sie. »Da kann ich also immer.«
»Morgen wäre gut. Ich habe am Nachmittag eine Besprechung, und dann hole ich dich ab.«
»Sehe ich dann Linda?«
»Ja, aber sie wird angekettet sein.«
21
Sonntag, 2. Dezember
Linda stand in der Västmannagatan. Es war schon seit einer Stunde dunkel. Feuchte Luft drang ihr unter die Haut. Sie lehnte nur mit den beiden Schulterblättern an der Hauswand und blickte über die Straße hinauf zum Atelier. So verharrte sie eine halbe Stunde, ohne sich zu rühren. Die Kälte war längst in ihre Glieder gekrochen, aber das interessierte sie nicht. Oben im Atelier brannte kein Licht. Das musste nicht heißen, dass er nicht da war, denn die anderen Räume lagen nach hinten raus.
Das war auch nicht wichtig.
Sie zählte bis drei, dann stieß sie sich von der Wand ab und ging los. Sie klingelte einmal und noch einmal, aber es erklang kein Summton. Oben in der Wohnung im vierten Stock brannte Licht. Papa war es nicht, das war klar. Der hatte sich nach dem gestrigen Abend den ganzen Tag im Präsidium verkrochen. Wahrscheinlich war Sofi dort oben. Sie klingelte, ohne genau zu wissen warum. In ihrer Lage wäre sie lieber mit Barbro zusammengewesen.
Sofi riss die Tür auf und sah sie erstaunt an. Sie kaute etwas. Das war bestimmt Schokolade. Sofi lächelte und ließ Linda ohne Fragen herein.
»Man darf nichts anfassen, oder?«, fragte Linda.
Sofi grinste und ging in die Küche voraus, die gleich gegenüber vom Eingang lag. Dort standen zwei IC A-Tüten auf
Weitere Kostenlose Bücher