Der Zwerg reinigt den Kittel
den Mundwinkel. Ich klappe den Walkman auf. Eject funktioniert, Play nicht. Das werde ich erst gar nicht versuchen, ich meine, wir reden hier über einen Walkman der ersten Generation, auÃerdem ist das Plastik komisch verformt. Sieht aus, als wäre es an ein paar Stellen geschmolzen und wieder erstarrt. Die Kopfhörer sind in Ordnung.
Ich nehme die Kassette aus dem Walkman, auf dem Etikett steht Madonna. Wusste gar nicht, dass ich einmal auf Madonna abgefahren bin, wie man so sagt, ich werfe die Kassette in die obere Schublade, dann den Walkman und die Kopfhörer.
So viel dazu.
Das Foto, also ich muss sagen: ein wirklich guter Schnappschuss.
Ich inhaliere tief und lasse meine inneren Blicke über die sturmgepeitschte Ostsee schweifen.
Siebter Tag.
Die Kartoffelchips riechen muffig. Ich ziehe die zweite Packung aus dem Karton, sie ist löchrig wie die erste, ich reiÃe sie auf, ich rieche. Die dritte, die vierte, das warâs. So viel zum Thema letzte Vorräte.
Ich meine, klar, ich könnte jetzt einfach einkaufen gehen. Meine Rente ist nicht hoch, aber für ein bisschen Brot und fettarmen Streichkäse reicht es. Wenn ich Brot von gestern nehme und auf den Streichkäse verzichte, dann kann ich mir ein Schokoladencroissant leisten.
Ich sollte jetzt wirklich einkaufen gehen.
Ja, das sollte ich.
Ein paar Minuten später liege ich im Bett und esse Chips. Schmecken gar nicht schlecht, schmecken nach nichts.
Siebte Nacht.
Ich zünde mir eine Zigarette an und sehe nach dem Wetter in meinem Kopf. Immer noch ziemlich stürmisch, die Wellen türmen sich grauschwarz Richtung Himmel, ein paar Möwen hängen in den Windkurven. Kann sein, die haben gerade viel SpaÃ, kann aber auch sein, die haben genau keinen Spaà und kämpfen verzweifelt gegen den Wind an, so oder so, das weià kein Mensch, es schlägt kein Möwenherz in unsrer Brust.
Ich stehe am Strand und winke ihnen zu.
Nicht aufgeben, Leute, das wird schon!
Windstille, Wintergrau, Wundliegen. Alles eine Frage der Zeit.
Achter Tag.
Ich war gerade auf dem Klo, immerhin, jetzt bin ich wieder im Bett und betrachte das Kuvert. Ziemlich dick, fast ein Paket, rechts oben ein fetter Stempel. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Jemand hat mir das Ding in den Briefschlitz gestopft, vielleicht der Postbote, vielleicht die Ministerin höchstpersönlich.
Ja, so stelle ich mir das vor. Ich stelle mir vor, wie die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend an meine Tür klopft und sagt: »Frau Block? Sind Sie zu Hause? Ich hätte da etwas für Sie. Für Sie von mir, ganz persönlich.« Vielleicht sagt sie auch: von Frau zu Frau. Etwas in der Art. Dann stopft sie das Kuvert durch den Briefschlitz, weil sie denkt, dass ich gerade auf Kaffeefahrt bin oder beim Nordic Walking. Die Ministerin weià ja nicht, dass ich gerade an einem Dekubitus vierten Grades arbeite und deswegen nicht öfter aufstehen darf als unbedingt nötig.
Ich reiÃe das Kuvert auf und kippe den Inhalt vor mir auf die Bettdecke. Ein Brief, eine Broschüre, noch eine Broschüre.
In dem Brief begrüÃt mich die Ministerin mit »Liebe Seniorinnen und Senioren«. Dann erklärt mir die Ministerin, dass ich mein Recht auf eine selbständige und aktive Lebensführung auch im Ruhestand nicht verliere und dass ich diesbezüglich mit ihrer vollen Unterstützung rechnen kann. AuÃerdem, so erklärt mir die Ministerin, sind Innovationskraft und Kreativität keine Monopole der Jugend.
Die Gesellschaft, liebe Seniorinnen und Senioren, braucht dich! Dein Wissen, deine Erfahrung, dein Engagement.
Ich überfliege Leistungsfähigkeit. Ich überfliege Generationenvertrag.
Mobilität.
Partizipation.
SpaÃ.
Zum Abschluss lasse ich mir von der Ministerin erklären, dass ich nicht nur das Recht auf die eingangs erwähnte selbständige Lebensführung habe, sondern auch darauf, der Gesellschaft meine wertvollen Potentiale zur Verfügung zu stellen. Alle weiteren Informationen finde ich in der beigelegten Broschüre, Kapitel drei, Freiwilligendienst für Senioren, und Kapitel vier, Wirtschaftsfaktor Alter, erklärt mir die Ministerin, und mir wird klar, dass sie vorhin an der Tür gar nicht gedacht hat, dass ich auf Kaffeefahrt bin oder beim Nordic Walking. Sie hat gedacht, dass ich gerade in einer Kindertagesstätte bin und ehrenamtlich Kuchen backe.
Weitere Kostenlose Bücher