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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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mehr gibt, wofür es sich noch zu leben lohnt. Nordic Walking ist natürlich immer ein Grund, keine Frage, aber wem fällt das schon ein, wenn er mit einem handfesten Rentenschock im Bett liegt?
    Und jetzt die gute Nachricht: Es gibt einen Trick.
    Und jetzt der Trick: einfach aufstehen.
    Ich schlage mit einem Ruck die Bettdecke zur Seite und stehe einfach auf. Meine Lunge gibt ein pfeifendes Geräusch von sich, mein rechtes Knie ein knackendes, das linke eher ein knirschendes, meine Hüfte rotiert orientierungslos wie ein aus der Bahn geworfener Planet, jetzt findet sie den Gravitationspunkt und rastet ein. Ich nehme die Salatschüssel und klappere hölzern Richtung Küche. So muss sich Pinocchio als Rentner fühlen.
    Das war heute Morgen, wie gesagt, jetzt ist es Mittag, und ich knie immer noch vor dem Backofen. Das 18 . Jahrhundert macht mir echt zu schaffen. Ich schabe und kratze, alle zehn Jahre löst sich ein schwarzer Splitter, ich nehme den Splitter vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und lege ihn zu den anderen Splittern auf das Zeitungspapier.
    Ich will das ja jetzt nicht überstrapazieren mit der abendländischen Geschichte, aber so, wie ich hier knie, mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Kopf, sehe ich vermutlich aus wie ein christlicher Märtyrer aus dem 16 . Jahrhundert, der auf seine Auspeitschung wartet. Oder wie eine moderne Hausfrau.
    Ich ziehe das jetzt durch, egal, wie ich dabei aussehe. Denke ich und mache ein Ausrufezeichen hinter den Gedanken. So macht man das nämlich, wenn man sich etwas vorgenommen hat: Man zieht es durch.
    Karriere, Ehe, Diät.
    Die Wohnung putzen, am Leben bleiben.
    Der Sinn: fraglich.
    Der Weg: steinig.
    Und jetzt die gute Nachricht: Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels.
    Und jetzt die schlechte Nachricht: Der Tunnel hat kein Ende. Nicht, solange du lebst.
    Ich lasse das Messer fallen und ziehe die Hand aus dem Backofen. Ich nehme eine Handvoll Splitter von der Zeitung und werfe sie zurück in den Ofen, den Rest verteile ich großzügig über den Küchenboden.
    Ein paar Minuten später liege ich rauchend im Bett.

2
    Sechster Tag.
    Der Regen schlägt gegen die Scheiben, ich zünde mir eine neue Zigarette an der alten an und drücke die alte in der Salatschüssel aus. In der Salatschüssel, nicht am Bettpfosten, immerhin.
    An nichts zu denken ist nicht möglich, deswegen denke ich an die Ostsee. Ich war noch nie dort, wie gesagt, aber so eine Ostsee im Kopf ist genauso gut wie die echte. Der Strand ist leer, ein scharfer Wind pfeift über die Dünen. Dramatischer Himmel, aufgewühltes Meer. Kein optimales Wetter, wenn man an nichts denken will, aber mit dem Wetter ist es wie mit allem: Man muss Geduld haben, dann hört es auf.
    Ich inhaliere tief.
    Sechste Nacht.
    Keine Streichhölzer. Ich zerquetsche die leere Schachtel und werfe sie auf den Boden. Ich wühle in der oberen Nachttischschublade. Zettelkram, Rohypnoltabletten, ein Foto, ein Briefbeschwerer. Ich beuge mich aus dem Bett und öffne die untere Schublade, oder doch nicht, sie klemmt. Ich rüttle am Griff, die Schublade bleibt stur. So wie die sich wehrt, sind da sicher Streichhölzer drin. Höchste Zeit für ein bisschen Gewalt. Ich nehme den Briefbeschwerer und schlage auf die Schublade ein, der Griff springt ab, die Lackierung splittert ab, ich schlage und schlage, jetzt splittert das Holz, mein Gott, tut das gut.
    Ich lege den Briefbeschwerer behutsam zurück in die obere Schublade.
    Gute Arbeit, mein Freund!
    Ich bestreue ihn mit ein paar Rohypnoltabletten.
    Träum süß.
    Meine Hand fährt durch das Loch in der unteren Schublade, und da sind sie: Streichholzschachteln, haufenweise.
    Kaum zu glauben, aber so ist das: Du hast dein Leben lang Erwartungen und Wünsche und so, und nichts davon wird wahr, und dann, ganz am Ende, ist plötzlich Weihnachten und dein innigster Wunsch erfüllt sich.
    Ein Schluck Wasser.
    Ein bisschen Wundsalbe.
    Haufenweise Streichhölzer.
    Da ist noch etwas. Meine Hand fährt tiefer in die Schublade und tastet nach dem Gegenstand ganz hinten. Er ist rechteckig, er ist aus Plastik, jetzt rutscht er weg, die zweite Hand kommt der ersten zu Hilfe, jaja, so sind sie, die alten Affenpfoten: immer neugierig, immer auf der Suche.
    Läuse.
    Erinnerungen.
    Die Streichhölzer sind großartig, der Gegenstand ist enttäuschend. Ich zünde mir eine Zigarette an und klemme sie in

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