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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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zurückklappen, dazu macht sie ein Geräusch, das ein bisschen so klingt, als würde der verrückte Glasfadenmusiker den Glasfaden durch Gackern in Schwingungen versetzen. Nehme an, Frau Fitz übt gerade den Kükentanz.
    Â»Jetzt steig endlich ein!«, kläfft Karlotta aus dem Hintergrund.
    Â»Ja«, sagt Suzanna, »steig ein. Meine Beine tun weh.«
    Â»Steig ein«, sagt Marlen, »hilft ja doch nichts.«
    Frau Fitz gackert noch einmal kurz auf, dann verstummt sie. Ihre Schultern erschlaffen, der Zopf gleitet aus ihrer Hand. Sie sieht mich an, dann beugt sie sich vor und mustert Suzanna, Karlotta und Marlen, die hinter mir Aufstellung genommen haben.
    Â»Ihr seid also die Neuen«, sagt sie.
    Ja. Wir sind die Neuen.



1
    03 : 13 .
    Die Zahnseide ist ungewachst und geschmacksneutral. Wahrscheinlich ist es gar keine Zahnseide, sondern einfach nur weißer Zwirn. Als Meterware kommt das billiger.
    Gleich wird Schwester Olga einen dreißig bis vierzig Zentimeter langen Faden abreißen. Sie wird den Faden vorsichtig zwischen meine Schneidezähne schieben und sanft hin und her bewegen.
    Vorsichtig ist gut.
    Sanft ist gut.
    Schwester Olga ist sympathisch.
    So ein Zwirnsfaden tut verdammt weh, wenn ihn dir jemand mit Gewalt zwischen die Zähne rammt und dann kräftig damit herumrüttelt. Schwester Terese macht das so, und Schwester Cornelia auch, und deswegen bin ich sehr froh, dass heute Schwester Olga Nachtschicht hat.
    Heute kein Zahnfleischbluten.
    Heute kein »Waren wir wieder ein böses Mädchen, Frau Block, und haben mitten in der Nacht Thunfisch gegessen?«.
    Ja, das haben wir. Wir haben schon wieder um drei Uhr nachts Thunfisch in eigenem Saft und Aufguss gegessen, direkt aus der Dose. Wir wohnen jetzt seit acht Tagen in der R ESIDENZ , und seit acht Tagen öffnen wir jede Nacht um drei eine Dose Thunfisch. Wir machen das im Dunkeln und sehr leise, damit die anderen nicht aufwachen.
    Dreibettzimmer. Rechts ein braves Mädchen, links ein braves Mädchen. Schlafen ist brav. In der Mitte sitzt das Böse hellwach in seinem Bett und zerkaut Thunfisch. Dann klingelt es nach der Nachtschwester.
    Klack. 03 : 14 .
    Schwester Olga zieht an der Meterware und reißt einen dreißig bis vierzig Zentimeter langen Faden ab. Sie setzt sich auf meine Bettkante und wickelt das eine Ende des Fadens um ihren rechten Zeigefinger, das andere Ende um den linken. Sie legt die Daumen an die Zeigefinger, um den Faden zu fixieren.
    Â»So«, sagt sie mit gedämpfter Stimme, damit die anderen nicht aufwachen, »und jetzt machen wir schön den Mund auf, Frau Block.«
    Ja, das machen wir.
    So schön wie möglich.
    Ich öffne den Mund, Schwester Olga dreht den Kopf zur Seite und atmet tief durch. Einmal aus, einmal ein, ganz tief, dann dreht sie den Kopf wieder zu mir, ihr Gesichtsausdruck ist, wie soll ich sagen, irgendwie gequält, na ja, was soll ich sagen?
    Augen auf bei der Berufswahl?
    Nebenbei: Thunfisch in Öl riecht genauso übel wie Thunfisch in eigenem Saft, schmeckt aber besser. Das Problem: Mit Öl ist der Thunfisch ein Flop. Das Öl macht die Fasern geschmeidig, und sie flutschen durch die Zahnzwischenräume, statt stecken zu bleiben.
    Â»Bereit?«, sagt Schwester Olga. Ihre Stimme klingt wie ihr Gesichtsausdruck.
    Ich nicke mit weit aufgerissenem Mund und starre auf die Uhr gegenüber an der Wand. Die Digitalanzeige schimmert in blutigem Rot, noch immer 03 : 14 , ich frage mich, warum das Miststück immer klack macht, wenn es von einer Minute zur nächsten springt, normalerweise schleichen sich diese Digitaldinger doch lautlos durch die Zeit, wahrscheinlich ein Produktfehler. Außerdem frage ich mich, warum die Zeit immer dann nicht vergeht, wenn sie es besonders eilig haben sollte. Schwester Olga hebt die Hände.
    Â»Wir machen das sehr schön, Frau Block«, sagt sie leise und spannt den Faden. »Immer schön offen halten, dann sind wir schnell durch mit den Zähnchen und können bald wieder Heia machen, und das wollen wir doch, nicht wahr?«
    Ja, das wollen wir.
    Wir wollen seit vierzig Jahren Heia machen und können es nicht, aber davon haben Sie keine Ahnung, liebe Schwester Olga. Außerdem haben Sie keine Ahnung, was wir hier gerade treiben. Sie denken, dass es um den Thunfisch geht. Sie denken, dass wir eine von diesen hilflosen alten Frauen sind, die mitten in der Nacht klingeln und etwas wollen. Etwas.

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