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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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eher unscharfen Bereich abzeichnet, bei dem es sich um Suzannas Gesicht handeln muss.
    Wie es aussieht, bin ich ziemlich betrunken.
    Ich habe seit 1983 nicht mehr so gesoffen.
    Karlotta. Sie macht das absichtlich.
    Ich will, dass mein Zeigefinger auf Karlottas Glas zeigt und mein Mund sagt, dass da etwas nicht stimmt, weil es das einzige Glas auf diesem Tisch ist, das nie nachgefüllt wird.
    Was hast du vor, du hinterfotziger alter Kampfzwerg?
    Meine Pfote wischt den letzten klaren Gedanken, den ich an diesem Abend habe, einfach weg, dann greift sie nach dem Glas.
    Â»Friede meiner Asche«, sage ich und kippe den Schnaps hinunter, Karlotta schenkt nach.
    Â»Fazit«, sagt sie, »wir haben keine Chance. Sie werden uns nie in Ruhe lassen, solange wir noch auf zwei Beinen gehen können und nicht völlig senil sind. Sie wollen, dass wir uns nützlich machen, bis wir ins Grab steigen, und deswegen gibt es nur zwei Optionen. Erstens: Wir sterben so schnell wie möglich. Schade um die Arbeitskraft, werden sie sagen, und um die Kaufkraft auch, aber immerhin dreimal Rente und einmal Witwenpension weniger. Wirtschaftsfaktor null, und das ist schade. Kostenfaktor auch null, und das ist gut. Klare Rechnung, saubere Endlösung, werden sie sagen und zufrieden sein, und das bedeutet: Sie haben gewonnen, wir haben kapituliert. Und was fällt uns zum Stichwort Kapitulation ein?«
    Â»Ã„h«, lallt Marlen.
    Â»Gute Antwort«, lalle ich.
    Suzanna gähnt.
    Â»Genau«, sagt Karlotta. »Uns fällt genau nichts ein, weil das Wort Kapitulation in unserem Wortschatz nicht existiert. Und was tun wir, wenn der Kampf aussichtslos ist und Kapitulation nicht in Frage kommt?«
    Ein Glück, dass sie die Antwort nicht abwartet.
    Â»Geordneter Rückzug! Weg aus der Schusslinie und ab ins Hinterland, womit wir bei Option Nummer zwei wären: Wir gehen ins Altenheim. Das ist der einzige Ort, an dem sie uns in Ruhe lassen werden. Altenheim, Irrenanstalt, Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher – alles dasselbe Prinzip. Prinzip: lebenslänglich Ruhe haben. Prinzip: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.«
    Suzanna schläft, Marlen auch. Suzanna mit herabhängenden Armen und auf die Brust gesunkenem Kopf, Marlen mit dem Kopf auf dem Tisch, die mageren Arme als Unterlage, ein Kissen aus Haut und Knochen.
    Es gibt so gut wie nichts im Leben, das es nicht wert wäre, verpasst zu werden. Der Schlaf ist eine Ausnahme. Und der eine oder andere Moment, den du nicht verschlafen solltest, weil sich in diesem Moment etwas Wichtiges entscheidet. Etwas, das du nie wieder rückgängig machen kannst, wenn du es verpasst.
    Irgendwann an diesem Abend muss es so einen Moment gegeben haben, und wir haben ihn verschlafen, alle drei. Suzanna und Marlen im strengen Sinn, ich im eher schlampigen. Ich habe meine Augen geschlossen, sehnsüchtig nach dem Schlaf, den ich ständig verpasse, und alles, was Karlotta noch gesagt hat, ist von dem Knistern hinter meinen geschlossenen Lidern übertönt worden. Weggespült von einer Flut aus rötlichen Flecken und hochprozentigem Alkohol. Abgesoffen im Meer meines schlaflosen Elends.

3
    Klack.
    Marlen zieht ihren Kunstfingernagel aus dem Schloss der Fahrertür und grinst befriedigt. Irgendwo in einem der Bürobauten links oder rechts vom Einkaufszentrum greift sich ein juveniler Mann in Anzug und Krawatte mitten in einem extrem wichtigen Telefonat an die Brust. Ein Stich, ein Schmerz, seine Finger krallen sich in das italienische Markenhemd.
    Â»Wir können«, sagt Marlen. »Spritztour ins Grüne! Wer weckt den Wal?«
    Suzanna erwacht aufs Stichwort und kichert, Marlen öffnet die Tür, zu spät, sage ich.
    Ãœber den Großparkplatz fährt ein Kleinbus auf uns zu, im Schritttempo. Er ist nachtblau, fast schwarz. Die Scheiben sind dunkel getönt, auf der Schiebetür steht in weißer Schrift: D IE R ESIDENZ .
    Karlotta hebt die Broschüre und wedelt. »Hierher! Hierher!«
    Marlen drückt die Fahrertür wieder zu, irgendwo lässt ein Schmerz nach, so plötzlich, wie er gekommen ist. Ich verabschiede mich im Geiste von dem juvenilen Mann in Anzug und Krawatte, der nur knapp einen Herzinfarkt überlebt hat und für immer halbseitig gelähmt sein wird.
    Tschüs, schönes Leben noch, sage ich stumm, und Marlen sagt laut, dass sie jetzt gleich den Chauffeur zur Sau machen wird.
    Erstens, weil

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