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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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Frau Kropp gestopft hat, ihren Nachlass sozusagen. Der Kram vom Nachttisch war auch dabei, und wahrscheinlich sitzt Frau Wimmer immer noch auf dem Boden und wiegt das Windlicht aus Terrakotta im Arm wie einen Säugling.
    Doppelrudis Geschenk, gegen dunkle Nächte.
    Ich sage besser nichts.

9
    Sie fahren mit diesen zweistöckigen Rollwägelchen herum und verteilen das Frühstück. Schwester Olga, Doppelrudi, die Küchenhilfe. Alle haben ihre Kittel ausgezogen und tragen ärmellose T-Shirts, alle schwitzen, die Küchenhilfe am meisten. Wenn sie ihre Arme hebt und ein paar schwarze Strähnen zurück unter die Hygienehaube stopft, glitzern Schweißperlen in ihrem Achselhaar wie ein Diadem an der falschen Stelle.
    Die Küchenhilfe ist aus Polen, die Rollwägelchen sind aus Metall. Früher waren sie weiß lackiert, jetzt sind sie grau. Rostige Stellen, Kratzer, hier und da noch ein Rest weißer Farbe, der sich hartnäckig an das Metall klammert.
    Â»Mit diesen Lackresten ist es wie mit alten Leuten«, hat Marlen vor ein paar Tagen beim Frühstück gesagt, »manche musst du mit Gewalt abkratzen, damit sie endlich loslassen.«
    Die meisten hier im Speisesaal gehören zu diesen Manchen. Sie kleben auf ihren Sesseln, sie kleben an ihren Tischen, viele umklammern ihre Teller, die noch leer sind.
    Der Radetzkymarsch ist vorbei, die Lautsprecher hängen stumm an der Decke und warten auf ihren nächsten Einsatz, die Uhr sagt knack, 07 : 51 .
    Sechzig Leute in einem Raum, man möchte meinen, dass es da keinen Radetzkymarsch braucht für ein bisschen Lärm. Für ein bisschen Geplauder und Gelächter und so, kennt man ja, Stichwort Betriebsfeier, Stichwort Ferienlager.
    Sechzig alte Leute im Speisesaal der R ESIDENZ , und du kannst es trotzdem hören: das Knacken der Uhr, das Quietschen der Räder an den Rollwägelchen, das Geräusch der Thermoskannen, wenn die Küchenhilfe sie vom Wägelchen auf die Tische stellt. In den Thermoskannen ist Kräutertee, am Handgelenk der Küchenhilfe baumelt ein Bettelarmband. Der Tee ist ungesüßt, die Anhänger sind aus Silber. Fliegenpilz, Herz, Taube. Winzige Symbole aus Silber, eine Waage ist auch dabei, und wenn die Küchenhilfe ein paar Meter von dir entfernt ihre Haare zurück unter die Haube stopft, dann kannst du es hören. Du kannst hören, wie das Glück gegen die Liebe schlägt und die Gerechtigkeit gegen den Frieden.
    Ich starre auf die Uhr, 07 : 51 , wie gehabt. Noch vier Minuten, und wir dürfen anfangen. Bis dahin wird es hier sein wie in einem vollen Warteraum, Prinzip Arbeitsamt, Prinzip Arztpraxis. Alle sitzen herum, keiner redet, ab und zu ein Räuspern, hier und da ein Seufzen, trübe Gedanken.
    Seit neun Wochen arbeitslos: keine Aussicht auf einen Job.
    Seit vier Monaten schwanger: keine Aussicht auf eine Abtreibung.
    Seit acht Tagen in der R ESIDENZ , oder seit acht Jahren, egal, auf jeden Fall keine Aussicht auf ein Schokoladencroissant oder eine knusprige Scheibe Speck.
    Das Symbol der Hoffnung: Es könnte eine winzige Tasse Espresso sein.
    Der Vergleich mit dem Warteraum trifft es übrigens ziemlich gut, sind ja meistens überheizt, die Warteräume, und immer stickig. Und immer denkt irgendjemand an Selbstmord. Die Schwangere jenseits der Fristenlösung zum Beispiel, die denkt sicher daran, und sie stellt sich das sehr dramatisch vor, so mit aufgeschlitzten Pulsadern und viel Blut in der Badewanne. Mutterkindblut. Ein bisschen frische Luft könnte jetzt nicht schaden. Hebt die Stimmung, positive Gedanken und so, alles eine Frage der Sauerstoffzufuhr, aber keiner macht das Fenster auf. Keiner traut sich, weil es immer irgendjemanden gibt, der keine Zugluft verträgt oder leicht friert. Der sich beschwert.
    Hier im Speisesaal der R ESIDENZ sind das so gut wie alle, deswegen sind die Fenster immer geschlossen, deswegen ist die Heizung immer aufgedreht, auch im Sommer, auch an einem herrlichen siebzehnten August wie heute.
    Außentemperatur: geschätzte zwanzig Grad.
    Innentemperatur: geschätzte dreißig, gefühlte vierzig, einfach herrlich, der Sommer, ich starre auf die Uhr. Die Digitalanzeige ist brutkastenrot, eine Nacktschnecke kriecht mir langsam den Rücken hinunter, zumindest fühlt es sich so an, vorne kriecht auch so ein Biest, die Schleimspur verläuft vom Hals bis zum Nabel.
    Ich denke an eine Badewanne mit Eiswasser.
    Ich denke an

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