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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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natürlich.
    Frau Wimmer wird es heute nicht mehr schaffen, der Professor hat noch eine Chance, je nachdem, wo er steckt. Je nachdem, wo er steckengeblieben ist. Der Professor schafft es selten ohne Hänger vom vierten Stock in den Speisesaal, und wenn es ihn an einer ungünstigen Stelle erwischt, zum Beispiel irgendwo im Treppenhaus, wo keiner vorbeikommt, weil die meisten Alten den Aufzug nehmen, dann war’s das. Wenn keiner vorbeikommt und klatscht, dann war’s das.
    Um Kurt Schwochow muss man sich keine Sorgen machen. Der fehlt immer um diese Zeit, und er schafft es immer. Leider.
    Wir sind hier übrigens nach Stockwerken sortiert, pro Stockwerk ein Tisch, und ich sage das nur, damit das klar ist.
    Nur, damit das klar ist: Wir können uns hier nicht aussuchen, mit wem wir frühstücken. Mittagessen, Abendessen, Kreativgruppe, alles nach Stockwerken sortiert, sogar die Fernsehräume.
    Mit wem willst du frühstücken?
    Mit wem willst du fernsehen?
    Kreativ sein? Dein Leben verbringen? Das sind wichtige Fragen, und wenn du auf alles nur sagen kannst: Ich kann es mir nicht aussuchen, dann bist du entweder im Gefängnis oder im Altenheim. Oder zu Hause bei deiner Familie.
    Karlotta starrt vor sich hin, Schweißtropfen auf ihrer Stirn.
    Suzanna starrt auf den Tisch, Schweißflecken unter ihren Achseln.
    Marlen betrachtet ihre Fingernägel. Ganz entspannt, trocken wie ein Knäckebrot. An den Spitzen ist der rote Lack abgesplittert, vor zwanzig Minuten, nach meinem Abgang aus Zimmer Nummer eins, war er noch perfekt, das weiß ich genau. Marlen prüft Nagel für Nagel, ab und zu kratzt sie ein paar Splitter ab. Keine Ahnung, wie sie das hinkriegt mit ihrer Körpertemperatur, aber die Legende sagt, dass Hexen niemals schwitzen und niemals bluten, weil ihr Blut aus Asche ist und ihr Schweiß aus pulverisierter Kreide.
    Ich weiß nicht, woraus der Schweiß von Frau Schnalke gemacht ist, vielleicht aus geschredderten Reißnägeln, auf jeden Fall schwitzt sie auch nicht. Sie sitzt zwischen Suzanna und der Gräfin, den Kugelschreiber in der Hand, die Liste liegt auf ihrem Teller, ihr Blick ist starr auf die Eingangstür gerichtet. Jedes Mal, wenn jemand hereinschlurft, macht sie ein Häkchen auf der Liste. Jedes Mal, wenn jemand im Rollstuhl hereinrollt, macht sie ein Häkchen auf der Liste, das macht sie jeden Morgen. Namensliste. Sechzig Namen, nach Stockwerken sortiert. Der Plastikbeutel mit den Innereien hängt über ihrem Klappstuhl, Attila sitzt auf ihrem Schoß und schnurrt.
    Wenn ein Kater schnurrt, dann ist das ein angenehmes Geräusch. Wenn ein Basilisk schnurrt eher nicht.
    Frau Fitz macht auch Häkchen. Ohne Kugelschreiber und ohne Liste, sie malt die Häkchen auf ihren leeren Teller, immer zeitgleich mit Frau Schnalke. Dazwischen betrachtet sie ihre Fingernägel, wie Marlen. Ab und zu kratzt sie ein bisschen von dem roten Lack ab, der nicht da ist. Jetzt senkt sie den Kopf. Jetzt umklammert sie ihren Teller. Jetzt hebt sie eine Hand und stopft ihren grauen Zopf unter die Hygienehaube, die nicht da ist. »Klimperklimper«, sagt sie leise.
    Häkchen, kratzen, klimpern, klammern, so geht das die ganze Zeit. Morbus Alzheimer ist eine neurodegenerative Erkrankung mit vielen lustigen Symptomen, eines davon ist das sinnlose Imitieren anderer Leute.
    Frau Sonne sitzt schweigend da und umklammert ihren Teller. Gesenkter Kopf, blasses Gesicht. Ein Pflaster auf der rechten Wange, das war gestern schon da, das Pflaster auf der Nase ist neu. Später werden wir Marlen Geld geben, Karlotta, Suzanna und ich, weil sie die Wette schon wieder gewonnen hat. Wir wetten jeden Tag nach dem Frühstück, wo Frau Sonne beim nächsten Frühstück ein neues Pflaster haben wird. Die Wunden kommen über Nacht, das erklärt den Wettrhythmus.
    Bisswunden.
    Kratzwunden.
    Und kleine Blutergüsse, aber die zählen nicht, hat Marlen gesagt, weil das keine richtigen Wunden sind.
    Â»Was ist mit diesen komischen Striemen am Hals«, hat Karlotta gesagt, »zählen die?«
    Â»Nur die Wunden zählen. Nur das Blut zählt, das geflossen ist«, hat Marlen gesagt, mit Betonung auf geflossen.
    Â»Oh ja! Nur die Wunden! Klatschklatsch. « Suzanna war begeistert.
    Â»Ist gut«, hat Karlotta gesagt. »Immerhin klare Spielregeln.«
    Ich habe nichts gesagt. Seitdem gewinnt Marlen jeden Tag.
    Die Legende sagt, dass Hexen und Katzen gut

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