Der Zwerg reinigt den Kittel
Mahlzeit für die Toten nichts mit letzter Ehre zu tun hat, sondern mit endgültigem Loswerden. Sonst gehen sie nicht, die Toten, würde ich sagen, sondern sie bleiben. Nisten sich ein in unserem Leben und zehren von den Erinnerungen, die wir an sie haben. Nachts nagen sie uns Löcher in den Schlaf oder fressen ihn ganz auf.
Gedächtnis: Speisekammer der Toten.
»Nichts Besonderes«, sage ich, »ich habe nichts Besonderes gesagt über die Toten, nur das Ãbliche. Dass wir um sie weinen und dass es nichts hilft.«
»Weinen«, sagt er, »genau. Sie haben vom Weinen geredet, und dann haben Sie gesagt, dass ⦠dass â¦Â«
Dass unsere Tränen Symbole sind. Aber nicht für die Trauer um die Toten, weil sie nie wiederkehren, sondern für die Angst, sie könnten nie gehen. Kleine glitzernde Symbole am Bettelarmband der Angst. Habe ich übrigens gar nicht gesagt, hätte ich aber sagen können, wenn ich eine polnische Küchenhilfe wäre.
»Können Sie das bitte wiederholen, Frau Block, das mit dem Weinen?«
Wozu hat der Mann einen Kugelschreiber? Wozu hat der Mann ein Notizbuch?
»Wörtlich?«, sage ich.
»Wörtlich, wenn Sie können.«
Ich kann. Mein Gedächtnis ist topfit.
»Wenn dich jemand fragt, warum du so rote Augen hast«, wiederhole ich mit der gelangweilten Stimme einer Fünfjährigen, die ein Gedicht aufsagen muss, »dann sagâs doch einfach. Sag: Ich habe geweint. Das macht die Sache nicht besser, und keiner deiner Toten kehrt zurück, nur weil du um sie geweint hast ein paar Minuten oder Stunden, aber wenigstens ist es raus. Doppelrudi sagt nichts, aber â¦Â«
»Frau Block!«
»Was?«
»Sie haben da etwas ausgelassen.«
Habe ich?
»Nein«, sage ich, »mein Gedächtnis ist topfit. Zumindest mein Kurzzeitgedächtnis. Mit dem Langzeitgedächtnis habe ich so meine Schwierigkeiten, aber das wissen Sie ja. Bei uns alten Leuten ist das in der Regel umgekehrt, heiÃt es zumindest, aber ich bin eine Ausnahme. Das ist wie mit meiner Körpertemperatur, von der es heiÃt, dass sie niedriger ist als bei jungen Leuten, und das sind alles leere Versprechungen, weil ich nämlich schwitze wie ein Schwein, wenn es heià ist, und mich auÃerdem sehr gut erinnern kann, was ich vor ein paar Minuten gesagt habe. Was ich vor vierzig Jahren so gesagt habe, das dürfen Sie mich nicht fragen. Aber fragen Sie mal einen Zwanzigjährigen, was er vor vierzig Jahren so â¦Â«
» Das war es!«, sagt Doktor Klupp, es klingt wie »Heureka!« Mein Gott, ist der Mann aufgeregt.
»Vierzig Jahre, haben Sie gesagt! âºIch habe vierzig Jahre um meine Toten geweint, schlaflos und ⦠und â¦â¹Â«
Mein Gott, ist der Mann vergesslich. Ich deute auf den überquellenden Aschenbecher.
»âºâ¦ und kettenrauchendâ¹, genau. Schlaflos und kettenrauchend. Das haben Sie gesagt, Frau Block.«
Habe ich?
»Das war nur ein Beispiel«, sage ich. »Ich habe nicht wirklich von mir gesprochen. Ich, du, man â da sind die Grenzen flieÃend, grammatikalisch und überhaupt, fragen Sie Frau Fitz. Die ist beim Frühstück immer so ziemlich jeder, nur nicht sie selbst.«
Doktor Klupp beugt sich über den Tisch. Kein gutes Zeichen, das macht er immer, wenn er mir etwas Unangenehmes sagen will. Er beugt sich über den Tisch und sieht mich prüfend an.
»Frau Block«, sagt er leise, »um welche Toten weinen Sie seit vierzig Jahren? Was ist damals geschehen vor vierzig Jahren? Irgendetwas Schreckliches, nicht wahr? Irgendetwas, an dem Sie schuld sind. Sie haben es vergessen, um sich zu schützen. Um den Schmerz ertragen zu können, den das Ereignis Ihnen bereitet hat, und es wird sehr schmerzhaft sein, sich daran zu erinnern, ein sehr schmerzhafter Prozess, aber Sie sind nicht alleine. Ich werde Ihnen helfen, und Sie müssen die Hilfe annehmen und sich erinnern, wenn Sie je wieder schlafen wollen.«
Er sagt das alles sehr leise, fast raunend, aber ich kann trotzdem jedes Wort verstehen, an dem Mann ist wirklich eine Souffleuse verlorengegangen, ich schlieÃe die Augen. Nur für einen Moment, nur ein Reflex.
»Herr Doktor«, sage ich laut, um das Knistern hinter meinen geschlossenen Lidern zu übertönen, »Herr Doktor, kennen Sie den Witz von der vergesslichen alten Frau, die zum Psychiater geht und sagt:
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