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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unruhige Grün der Wälder, und Grimma war keine Ausnahme. Die Vorstellung, dass sich über ihren Köpfen die Wellen eines Ozeans brachen, verursachte ihr Übelkeit.
    »Ich gehe vor«, zischte sie Styrmir zu. Ehe er widersprechen konnte, hatte sie die Plattform bereits überquert und huschte mit gezogener Axt durch die Tür.
    Die Kammer dahinter war kleiner als der Vorraum und doch um ein Vielfaches eindrucksvoller. Ihre Wände waren über und über mit Reliefs geschmückt, die meisten von Moos und Schimmelpilzen überzogen, und in den Boden war ein aufwändiges Mosaik eingelassen. Sämtliche Darstellungen zeigten Zwerge bei der Anbetung ihrer Götter. Letztere waren größer und filigraner gearbeitet, und obgleich sie lange Bärte trugen, glichen sie doch in ihrer Gestalt weit mehr den Menschen als den gedrungenen, breitschultrigen Zwergen. Grimma fragte sich einmal mehr, in welcher Beziehung Zwerge und Menschen dereinst gestanden hatten. Waren die Zustände im Hohlen Berg gar keine Ausnahme? Waren ihre Urahnen ein Dienervolk der Menschen gewesen? Der Gedanke erfüllte sie mit Abscheu.
    Am anderen Ende des Höhlenraumes befand sich ein erhöhtes Podest, vielleicht eine Art Altar. Davor lagen auf einem Haufen allerlei alte Waffen, vom Schimmel zerfressene Kleidungsstücke, dazwischen Teile einer Rüstung. Auf Grimma wirkte dieser Anblick, als hätte irgendwer in größter Eile wahllose Opfergaben abgelegt, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie zu sortieren oder entsprechend weihevoll darzubringen. Dies musste während des großen Auszugs nach Süden geschehen sein. Die Hast, mit der die Gaben an die Götter abgeladen worden waren, ließ darauf schließen, dass die Zwerge damals überstürzt, beinahe panisch gehandelt hatten. Als wären sie vor etwas auf der Flucht gewesen. Hatten die Nordlinge sie schon damals nach Süden verfolgt und den Weg zum Berg ausgekundschaftet?
    Styrmir trat hinter Grimma durch die Tür und blickte sich aufmerksam um. Mit unverhohlener Enttäuschung sagte er schließlich: »Sieht nicht aus, als würde uns das irgendwie weiterhelfen!«
    »Was hast du denn erwartet? Eine Speisekammer?«
    »Ich weiß nicht«, sagte er schulterzuckend. »Bessere Waffen vielleicht. Oder einen Hauch von Albenmagie.« Die Alben galten als die Urahnen der Zwerge, und ihr Zaubergeschick war der Stoff vieler Sagen.
    Grimma schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Nichts als Legenden. Zwerge und Zauberei, das kann nicht gutgehen.« Je länger sie die Reliefs an den Wänden betrachtete, auf denen sich Zwerge demütig vor menschlichen Göttern verneigten, desto absurder erschien ihr die Vorstellung von der legendären Albenmagie und der Abstammung ihres Volkes von lange verschollenen Fabelwesen. Lügen, dachte sie erbost, seit Generationen erzählt man uns nichts als Lügen!
    Am schlimmsten von allem aber war ein Gedanke, der ihr jetzt zum ersten Mal kam: Waren die angeblichen Götter die Vorfahren der heutigen Nordlinge gewesen? War ihr Volk vor einem Stamm wilder Barbaren auf die Knie gesunken? Und waren die Zwerge, die in der Arena an der Seite der Nordlinge gekämpft hatten, nichts anderes als die Nachkommen jener Zwerge, die, aus welchen Gründen auch immer, in den Ruinen zurückgeblieben waren? Sie verbesserte sich selbst: Die Zwerge hatten nicht
an der Seite
der Nordlandkrieger gekämpft, sondern
an deren Stelle
. Der Unterschied war fein, aber bezeichnend: Noch heute waren die Zwerge im Nordland nichts als Sklaven, die im Kampf den Feinden vor die Klingen geworfen wurden. Falls es Grimma nicht gelang, Thorhâl von seinem Plan abzubringen, würde das Volk vom Hohlen Berg das ungestörte Leben im Dienst der Nibelungen geradewegs gegen die Sklavenketten der Nordlinge eintauschen.
    Wer wusste schon noch, was damals wirklich geschehen war? Wann war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Nordlinge von Göttern zu Gegnern geworden waren? Und wie konnte das stolze Volk der Zwerge zu einer Meute unterdrückter Handlanger verkommen?
    Gerade wollte Grimma Styrmir auf die Reliefs und ihre mögliche Bedeutung aufmerksam machen, als er sagte: »Das sind Nordlinge, nicht wahr?« Dabei deutete er auf die steinernen Wandbilder. Er hatte längst dieselben Schlüsse gezogen.
    Grimma gab keine Antwort, sondern nickte nur. Es tat viel zu weh, die Wahrheit auszusprechen.
    »Wir müssen Thorhâl warnen.« Styrmir presste die Worte widerwillig hervor, als beginge er damit einen Verrat. Schon wollte er sich abwenden und zurück in den Vorraum

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