Der Zypressengarten
nach, kochend vor Wut und Selbstmitleid. Wie konnte er es wagen, in ihre Familie zu kommen und ihr zu erzählen, wie sie sich zu benehmen hatte? Sie hatte ihn eindeutig falsch eingeschätzt. Nach ein paar klug gewählten Worten in der Kirche hatte sie geglaubt, er würde sie verstehen. Wie er sie ansah, hatte sie zu der Überzeugung verleitet, dass er sie mochte. Nun, inzwischen wusste sie, dass er jeden so anguckte. Vielleicht war er eben doch ein typischer Argentinier, für den es ein Sport war, jede Frau zu verführen. Müsste sie mittlerweile nicht schlauer sein? Schönheit war nichts als trügerischer Schein.
Das Klingeln ihre Handys lenkte sie ab. Joes Nummer erschien auf dem Display, worauf Clementine ein resignierter Seufzer entfuhr. Wenigstens war Joe nett. Er wies sie nicht zurecht, als sie ihm von ihrer Stiefmutter erzählte, oder wollte sie dazu bringen, Marina zu verstehen. Als wäre das wichtig oder würde sie auch nur die Bohne interessieren! Vor allem aber liebte Joe sie.
»Hi, Joe«, meldete sie sich. »Hast du Lust auf Krebse zum Abendessen?«
»Bei dir oder bei mir?«
»Was glaubst du?«, fragte sie spitz.
»Okay, dann komm, so schnell du kannst. Ich bin am Verhungern.«
Als er zurück zum Hotel ging, wurde Rafa klar, dass er sich idiotisch benommen hatte. Sein Vater hatte ihm wieder und wieder gesagt, er dürfte nicht dauernd versuchen, die Welt zu retten. Schon als Junge hatte er sich um jede lahme Ente, jeden verletzten Hund, jede verwundete Seele gekümmert. Doch Menschen nahmen Hilfe nur dann an, wenn sie selbst um sie baten. Clementine glaubte, dass sie zufrieden war, wie es war. Sie wollte nicht gerettet werden, und Rafa hatte sowieso seine eigenen Probleme. Er würde es morgen wiedergutmachen und danach nichts mehr zu dem Thema sagen.
Nachdem er in seiner Suite gebadet und sich umgezogen hatte, ging er nach unten. Einige Gäste unterhielten sich mit Jake in der Diele, von wo aus man in den Salon sehen konnte, in dem kleine Grüppchen an den Couchtischen saßen und vor dem Abendessen noch Drinks nahmen. Dort, vor dem Kamin, waren auch Marina und ihre vier Damen. Pat und Veronica erzählten lebhaft von dem Bootsausflug.
»Nächstes Mal müsst ihr mitkommen«, sagte Pat zu Grace und Jane. »In unserem Alter brauchen wir alle ein bisschen Abenteuer. Schließlich ist man nur so alt, wie man sich fühlt, und im Moment fühle ich mich wie fünfzig.«
»Für dich mag das in Ordnung sein, Pat, aber Jane wird schrecklich seekrank, und ich bin auch nicht so wild auf das Geschunkel«, erwiderte Grace, die sich in die Kissen zurücklehnte und Sekt trank. In ihrem cremeweißen Kaschmir und den zarten Schuhen sah sie wirklich nicht aus, als wäre sie für die freie Natur geschaffen, von hoher See ganz zu schweigen.
»Ich könnte eventuell eine Tablette nehmen …«, begann Jane schüchtern.
»Richtig«, fiel Pat ihr sofort ins Wort. »Heute gibt es schon die tollsten Sachen! Pillen für alles und jedes.«
»Ich finde, wir machen morgen einen Spaziergang an den Klippen oben«, schlug Veronica vor. »Den können wir alle genießen.«
»Sie können bis Dawcomb-Devlish gehen«, sagte Marina. »Seit letztem Jahr haben ein paar neue Läden aufgemacht, die Sie sich ansehen können. Ah, hallo, Rafa.«
Der Künstler stand in einem blauen Hemd und einer hellen Baumwollhose vor ihnen, duftete nach Sandelholz und hatte noch feuchtes, krauses Haar.
»Guten Abend«, sagte er höflich. Die Frauen lächelten ihn bewundernd an.
»Setzen Sie sich«, forderte Marina ihn auf, und er hockte sich auf die Kaminbank.
»Was haben Sie mit den Krebsen gemacht?«, fragte Pat.
»Clementine sagte, sie wollte sie zum Abendessen haben.«
»Alle?«, rief Veronica entgeistert aus.
»Sie hat einen Freund«, sagte Marina leise.
Veronica zog verwundert die Brauen hoch. »Tatsächlich?«
»Ja, irgendjemand aus dem Ort namens Joe. Natürlich wurde er uns noch nicht vorgestellt.« Sie blickte verstohlen zu Rafa. Es war wichtig, dass Clementine nicht verfügbar schien.
»Typisch die jungen Leute. Als meine Tochter in dem Alter war, hatte sie ihren Freund schon über ein Jahr, ehe sie ihn uns vorführte«, erzählte Pat.
»Ich wette, ihr wusstet, wieso sie ihn geheim hielt, nachdem ihr ihn gesehen habt«, lachte Grace.
»Wie recht du hast, Grace. Es war ein Schock!«
»Nicht der Richtige?«
»Also, ich war eigentlich immer sehr offen, was die Entscheidungen meiner Kinder betraf«, antwortete Pat. »Ich habe gelernt zu
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