Der Zypressengarten
wie viele von Ihnen haben einen Freund, der keine Ahnung hat, dass Sie hier sind?« Sie wechselten schuldbewusste Blicke.
»Flo, Becca und Hailey«, sagte Sugar und kicherte in ihr Cocktailglas.
Hailey verzog das Gesicht. »Brian ist nicht mein fester Freund, bloß ein Typ, mit dem ich manchmal Spaß habe.«
»Und Sie, Sugar?« Rafa trank einen Schluck und beobachtete, wie sie vor seinen Augen dahinschmolz.
»Ich? Ich bin Single und sehr einsam.«
Nach der Arbeit fuhr Clementine nach Hause und packte ihren Koffer. Marina konnte sie leider nicht weiterquälen, denn sie war nicht da. Und ihr Vater und Jake mussten noch drüben im Hotel sein. Das Haus war leer. Plötzlich schien es ihr keine so gute Idee mehr, auszuziehen. Sie hockte sich aufs Bett und kaute an ihren Fingernägeln. So sehr sie ihre Stiefmutter auch hasste, hatte der ausgebaute Stall sich allmählich wie ein Zuhause angefühlt. Ihr Schlafzimmer war stets ein Zufluchtsort für sie gewesen. Wo sollte sie jetzt hin, wenn sie allein sein wollte? Würde Joe dauernd irgendwas von ihr wollen? Würde sie bei ihm jemals ihre Ruhe haben?
Sie ließ ein paar Sachen im Kleiderschrank und einige Winterpullover in der Kommode. Die brauchte sie vor dem Herbst nicht. Nachdem sie einen letzten Blick in ihr Zimmer geworfen hatte, schloss sie die Tür und schleppte ihren Koffer nach unten. Hoffentlich kam Marina zurück und flehte sie an, nicht zu gehen. Vielleicht würde sie es sich – falls Marina und ihr Vater sie anbettelten – anders überlegen. Aber es kam keiner.
Sie zog den Koffer zu ihrem Wagen und hievte ihn auf die Rückbank. Immer noch war niemand zu sehen. Nicht einmal Rafa, der den ganzen Tag ganz obenauf in ihren Gedanken herumgehüpft war wie ein störrischer Korken auf Wasser. Clementines Neugier trieb sie hinüber ins Hotel. Sie ging zum Empfangstresen, wo Jennifer vor dem Computer saß.
»Hi, hast du Marina und Dad gesehen?«
Jennifer sah auf. »Hi, Clementine. Die sind hier irgendwo. Rafa ist im Wintergarten.«
Clementine bemerkte das Armband, das ihr bekannt vorkam. Jennifer entging nicht, wohin sie sah, doch sie war zu langsam, es unter ihrem Ärmel zu verstecken. »Hübsch«, sagte Clementine.
»Ja, hat mir mein Vater geschenkt.«
Clementine zog eine Braue hoch. »So einen großzügigen Vater hätte ich auch gerne. Bei Nadia Goodman in der High Street haben sie ganz ähnliche. Vielleicht schleppe ich ihn mal hin.« Jennifer lächelte nervös, was Clementine erst recht ein Schmunzeln entlockte. Böser Mr Atwood, dachte sie, als sie durch die Diele ging. Oder vielleicht: dämlicher Mr Atwood?
Für einen Moment besserte die Entdeckung ihre Laune, und sie konnte es nicht erwarten, Sylvia davon zu erzählen. Wer hätte gedacht, dass die stille Jennifer von der Rezeption Mr Atwoods Geliebte war? Als Clementine jedoch durch den Salon zum Wintergarten schritt, kehrten ihre Gedanken zu ihrem Auszug zurück, und sie bekam wieder schlechte Laune. Was sollte das Ganze, wenn überhaupt niemand reagierte? Und das Mindeste, was sie verdiente, war eine Entschuldigung von Rafa.
Ihr Blick wanderte über die Tische und blieb an einer Gruppe kichernder junger Frauen in kurzen Flatterkleidern und mit zu viel Make-up hängen. Eine war Sugar vom Devil’s. Dann sah sie Rafa mittendrin, wie ein eitler Gockel inmitten hysterischer Hennen. Wut kochte in ihr hoch, als sie zusah, wie er einen Cocktail trank und über die zweifellos bescheuerten Witze der Frauen lachte, während Sugar schamlos ihre Brüste wippen ließ. Rafa schien es richtig zu genießen.
Plötzlich blickte er auf, als hätte er Clementines Rage quer durch den Raum gespürt. Er wurde ernst und stellte sein Glas ab. Clementine ärgerte sich, dass er sie ertappt hatte, wie sie ihn beobachtete; sie machte auf dem Absatz kehrt und lief weg. Ihr Herz raste, als sie durch das Hotel und hinaus in den Abendsonnenschein stürmte. Sie spürte, dass er direkt hinter ihr war.
»Clementine, warte!«, rief er. Sie ignorierte ihn, stieg in ihren Wagen und wühlte in der Tasche nach ihren Schlüsseln. »Wo willst du hin?«
»Ich ziehe zu Joe.« Sie bemühte sich, lässig zu klingen.
»Doch nicht wegen dem, was ich gestern Abend gesagt habe?«
»Oh nein, das bilde dir bloß nicht ein. Vergiss es.«
Er legte eine Hand auf das Wagenverdeck. »Ich möchte mich entschuldigen. Ich bin zu weit gegangen.«
»Entschuldigung angenommen.«
»Du bist immer noch wütend.«
»Nein, bin ich nicht.«
»Dann komm und
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