Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
geben die Zeitungen ihre Urteile ab, sowohl über die Diskussion im ganzen wie über die einzelnen Tanzschritte der Diskutanten.
Während man früher einerseits lebte und Politik machte und andererseits ins Theater oder ins Kino ging, um denen zuzusehen, die einander Ohrfeigen gaben, macht man heute Politik, indem man einander Ohrfeigen gibt und auf den Beifall derer hofft, die in der Absicht, am politischen Leben teilzunehmen, vor der Mattscheibe hocken und denen zusehen, die einander Ohrfeigen geben.
Dies erklärt auch, warum das Repertoire der Politiker auf ein paar Grundformeln und starre Gedanken reduziert ist, und warum, nach dem Muster des Musicals, das Spiel der Mißverständnisse und Verwechslungen dominiert. Ginger glaubte immer, daß Fred ein anderer sei, und Fred, daß sie einen anderen liebe; beide taten alles, um das Mißverständnis hervorzurufen, und am Ende sorgte dann die Situation selber für das Dementi. Nicht anders kommt einem heute die Politik vor.
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Mit einer letzten, unvorhersehbaren Folge: Auch die Zuschauer haben beschlossen, sich am Schauspiel zu beteili-gen. Sie scheinen bei Meinungsumfragen über ihr Wahl-verhalten gerne zu lügen. Und so sinkt der vermeintliche Sieger im Steptanzschritt in die Arme einer Ginger, die längst einen anderen liebt.
1995
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Die achtziger Jahre waren grandios
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht irgendwo eine Klage oder Beschwerde über die dummen, unerträglichen achtziger Jahre lese. Man könnte meinen, all unser gegenwärtiges Ungemach sei damals entstanden, und wären wir direkt aus den Siebzigern in die Neunziger gesprungen, wären wir heute klüger.
Für sich betrachtet sind die Einteilungen nach Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar – wie sie jetzt groteskerweise vorgenommen werden – nach Jahrtausenden unsinnig oder jedenfalls grobschlächtig, aber sie haben eine Art von symbolischer Prägekraft, und man muß sie im Hinblick auf das akzeptieren, was sie in der populären Einbildungs-kraft bewirken. Auch die schulischen Lehrpläne und die Handbücher gehen nach Jahrhunderten und befassen sich mit so heiklen Problemen wie der Frage, ob Napoleon zum achtzehnten oder zum neunzehnten Jahrhundert gehört. Es ist wie bei der Einberufung zum Militär: Wer am 31. Dezember geboren ist, muß sterben gehen, wer am 1. Januar, darf leben bleiben. Außerdem ist es schwierig, Gefühlsur-teile über Jahrzehnte abzugeben: Für einen, der seine erste große Liebe 1943 hatte, sind jene blutigen Jahre wunderbar und erregend gewesen.
Aber machen wir einmal das Spiel der Chronologien mit starren Kästchen. Die wichtigsten Jahre für das moderne Italien und vielleicht für die Welt sind die fünfziger gewesen (die natürlich im voraufgegangenen Jahrzehnt begannen). Jahre der Erneuerung in jeder Hinsicht, der Öffnung zur Welt und neuer, folgenreicher wissenschaftlicher Ent-deckungen. Europa teilt sich in zwei Lager, der Kalte 86
Krieg beginnt. In den sechziger Jahren beginnen die neuen Generationen über die Ozeane zu fliegen, wie man früher im D-Zug fuhr, die Wirtschaft brummt, die Literatur und die Künste blühen, es kommen Johannes XXIII. und das Zweite Vatikanische Konzil. Daß in manchen Teilen der Welt Massaker geschahen, war auch eine Gelegenheit für große Politisierungen, aber den Grundton des Jahrzehnts gab zu Beginn Kennedy mit seinem Aufruf zur Eroberung der Sterne an; er starb bald darauf, aber das Jahrzehnt endet mit der Landung auf dem Mond. Und mit der Bewegung von Achtundsechzig, weltweit: Trächtig mit all den positiven und negativen Folgen, die sie im nächsten Jahrzehnt haben wird, bewirkt sie einen Ruck durch die ganze Gesellschaft, von der Arbeitswelt bis zur Kultur, von der Politik bis zum Lebensstil. Man kann nicht sagen, es sei eine uninteressante Zeit gewesen.
Die siebziger Jahre (die heute im Fernsehen wiederbe-schworen werden, als seien sie die tollen Zwanziger gewesen) waren zumindest bei uns ein sehr düsteres Jahrzehnt.
Sie beginnen Ende 1969 mit dem Bombenmassaker an der Piazza Fontana und enden mit der Ermordung Aldo Moros. Die Gesellschaft wird vom Terrorismus erschüttert, die Leute haben Angst, abends ins Restaurant zu gehen.
Auch die aufgeklärtesten Geister verlieren die Orientie-rung und wollen es weder mit dem Staat noch mit den Roten Brigaden halten. Mit wem also dann? Um der neuen massenmedialen Potenz des Terrorismus entgegenzutre-ten, schlägt Marshall McLuhan, der Apostel des globalen Dorfes der Kommunikation,
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