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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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worden. Familie. Er hatte keine Feierlichkeit erwartet, war aber doch schockiert gewesen, wie schnell alles vorbei war. Die Sachen, die sie für ihn aufbewahrt hatten, waren auf dem Tresen vor ihm ausgebreitet, überprüft und abgezeichnet worden; er hatte sein Geld und seine Zugfahrkarte bekommen, hatte mit den anderen im Durchgang gestanden, dann vor dem Ausgang, und dann waren sie zum Tor hinaus. Das Klirren der Schlüssel, zum letzten Mal.
    Regen, der einem ins Gesicht schlug, und ein Sturm, der einen fast umwarf.
    »In der Simpson Street hat es ein Auto komplett umgeworfen.«
    »Acht Bäume, hat jemand gesagt.«
    »Kann nicht sein, in der ganzen Stadt gibt’s keine acht Bäume.«
    »Die Kinder waren nicht in der Schule, zu gefährlich.«
    »Das halbe Dach von der St.-Nicholas-Kirche ist weggeflogen.«
    Andy saß da, den Becher zwischen den Händen. Er kam sich unwirklich vor. Leute redeten, standen auf und setzten sich, kamen in die Gaststätte und gingen hinaus, und keiner beachtete ihn. Keiner wusste, woher er gerade gekommen war.
    Was würde passieren, wenn sie es täten?
    Es lag nicht daran, dass er allein hier draußen war, sich einen Becher Tee und einen Doughnut kaufte, auf einen Zug wartete, das machte ihm alles nichts aus. Es lag daran, dass ihn niemand beobachtete, niemand Notiz von ihm nahm. Viereinhalb Jahre lang war er nicht unsichtbar gewesen, doch nun war er es.
    Der Sturm drückte plötzlich gegen die Türen, schwang sie weit auf, ließ einen leeren Stuhl zu Boden krachen. Ein Kind in einem roten Anorak schrie.
    Andy dachte an seine Mutter. Sie hatte ihn nur ein halbes Dutzend Mal besucht, war mit gebeugtem Kopf und vor Scham zu Boden gerichtetem Blick in den Besucherraum geschlurft, danach war sie mehrfach im Krankenhaus gewesen und dann zu krank. Er hatte sie nicht als die verschrumpelt aussehende Person vor Augen, sondern als die Mutter, zu der er gerannt war, als die Freunde von Mo Thompson seine Finger mutwillig in der Tür eingequetscht hatten, die Mutter, die ihn schließlich gefunden hatte, als sie ihn in einen Schuppen gezerrt und im Dunkeln eingesperrt hatten, nachdem sie ihm erzählt hatten, die kratzenden Geräusche auf dem Dach kämen von Ratten. Das damals war seine Mutter gewesen, mit dicken Armen und roten Händen, bereit, seine Peiniger bis aufs Blut zu verprügeln, mit einer Nebelhornstimme, die man noch drei Straßen weiter hören konnte. Sie war geschrumpft. Ihr Mantel hatte graue Flecken gehabt, und in ihren Halsfalten war Dreck gewesen. Wenn sie sich über den Tisch im Besucherraum beugte, hatte sie streng gerochen.
    Die Frau hinter der Theke versuchte, eine der Türen mit Zeitungspapier festzuklemmen, aber sie wurde ihr aus der Hand gerissen, und jetzt schwappte das Regenwasser herein und lief über den braunen Linoleumboden.
    Drei Männer kamen ihr zu Hilfe. Sie holte einen Mopp und einen Plastikeimer und begann die Flutwelle des Regenwassers zurückzuschieben.
    Das Kind aß einen Schokoriegel und brüllte gleichzeitig, während die Fensterscheiben im Sturm ratterten.
    Andy wollte wieder zurück. Hier war es nicht sicher, der Boden schien unter seinen Füßen zu schwanken, und die Tatsache, dass niemand seinen Namen kannte, ängstigte ihn.
    Draußen wurde ein Teil eines Blechdachs abgerissen und krachte auf den Zement.
    Mam, murmelte Andy Gunton leise, und es war die Frau mit den dicken Armen und den roten Händen, an die er sich wandte, Mam.
    Aus den Lautsprechern kam unverständliches Gekrächze, vielleicht die Ansage für seinen Zug, vielleicht wurde aber auch das Ende der Welt angekündigt.
    Das Licht ging aus, und eine Sekunde lang erstarrten alle, schwiegen alle, selbst das Kind.
    Das Wetter hatte sie überrascht. Schwerer Regen und starke Winde waren vorhergesagt worden, aber doch kein solcher Hurrikan, der mitten an einem Montagvormittag derartige Schäden und ein solches Chaos anrichten würde. Der Strom in der Bahnhofsgaststätte ging nicht wieder an, und auch die Züge fuhren erst wieder am späteren Nachmittag.
    »Wie, zum Teufel, soll ich das denn schaffen?«
    Die Mutter des Kindes hatte noch ein Baby in einem Buggy und dazu zwei Koffer. Wegen der Bahnsteigänderung, verursacht durch das Unwetter, musste sie die Eisenbrücke überqueren. Sie war in Tränen aufgelöst, die Kinder waren todmüde, und der Regen prasselte immer noch herab.
    »Kommen Sie«, hörte Andy sich sagen. Er nahm die Koffer, trug sie über die Brücke und holte dann noch den Buggy. Der

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