Des Abends eisige Stille
andere Bahnsteig war gefährlich überfüllt. Der Regen floss im breiten Strom in den Rinnen entlang.
»Behalten Sie das kleine Mädchen auf dem Arm, ich mach die Tür auf und besetze einen Sitzplatz, nur keine Bange.«
»Was hätte ich bloß sonst gemacht?«, sagte die Frau immer wieder. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.«
»Jemand anders hätte sich um Sie gekümmert.«
»Man kann nicht jedem trauen, wissen Sie, die Menschen sind seltsam. Ihnen kann ich vertrauen.«
Andy sah sie an. Sie meinte es ernst. Später, dachte er, würde er das Komische daran begreifen.
»Wohin fahren Sie denn?«
»Nach Lafferton. In der Nähe von Bevham.«
»Das ist ja ganz auf der anderen Seite des Landes.«
»Ja.«
»Fahren Sie nach Hause?«
Er antwortete nicht. Er wusste es nicht.
»Was machen Sie beruflich?«
Er öffnete den Mund. Der Regen lief ihm am Hals entlang in sein Hemd. »Gemüsegärtnerei.« Aber der Zug fuhr ein. Sie war mit ihren Kindern beschäftigt und hatte ihn nicht gehört.
Andy warf sich gegen eine Tür, als sie an ihm vorbeiglitt, und als die Klinken freigegeben wurden, stürzte er in den Zug, drängelte sich zu einem Sitz durch, warf die Koffer der Frau darauf, ging zurück und hob die Kinder herein.
»Sie sind ein Heiliger, wissen Sie das, wie hätte ich es sonst schaffen sollen? Ich hätte es nie geschafft. Sie verdienen einen Orden.«
Sein eigener Zug kam erst eine Stunde später. Inzwischen waren auch die Lichter wieder an, und der Wind hatte sich etwas gelegt, doch es regnete nach wie vor in Strömen.
Es gab keinen Sitzplatz und keinen Speisewagen. Andy setzte sich im Gang auf seine Tasche, eingeklemmt neben einem Jungen mit einem Walkman, aus dem blecherne Geräusche drangen.
Michelle wissen zu lassen, wann er ankam, war unmöglich gewesen, und inzwischen kam es auch kaum mehr darauf an. Der Zug hielt ständig an, für ein paar Minuten oder eine halbe Stunde. Nach einer Weile schlief Andy im Sitzen ein. Als er aufwachte, war es draußen dunkel.
Er überlegte, wo die Frau mit den Kindern wohl war.
Der Junge stupste ihn mit dem Ellbogen an und reichte ihm eine Bierdose.
»Prost. Wo kommt das denn her?«
»Hatte welche in meiner Tasche.«
Andy nahm einen großen Schluck von dem lauwarmen, schäumenden Bier.
Vier Stunden später ging er den Zementweg zum Haus seiner Schwester hinauf. Es regnete immer noch. Die ganze Straße war mit Lärm erfüllt, Fernsehlärm, Musiklärm, Lärm von schreienden Kindern und brüllenden Erwachsenen. Die orangefarbenen Straßenlaternen beleuchteten einen Plastiktraktor vor seinen Füßen.
»Verdammt, du hast dir aber Zeit gelassen.« Seine Schwester Michelle sah eher wie vierzig aus als wie dreißig, und im Flur hinter ihr roch es nach Frittieröl. Sie hatte ihn zweimal im Gefängnis besucht, ganz am Anfang, bevor sie nach der Scheidung von dem ersten Nichtsnutz Pete Tait geheiratet und eine neue Kinderproduktion begonnen hatte.
»Wo warst du denn bloß?«
Andy folgte ihr durch das Haus in die hinten gelegene Küche, wo der Frittiergeruch am stärksten war. Fett spritzte aus einer Pfanne mit Pommes frites an die Fliesentapete. Er ließ seine Tasche fallen.
»Es hat gestürmt. Sturmböen und Überflutungen, aber vielleicht hast du ja nicht aus dem Fenster geschaut.«
»Ha, ha, ha, ich musste da verdammt noch mal durchwaten, um die Gören wegzubringen, ja? Sind deswegen keine Züge gefahren?«
»So was in der Art.«
»Hattest du schon deinen Tee?«
»Nein.«
Seine Schwester seufzte und hielt die Kesseltülle unter den Wasserhahn. Aus dem Fernseher im Nebenzimmer drang das ohrenbetäubende Geräusch quietschender Autoreifen.
Andy setzte sich an den Tisch. Sein Kopf schmerzte, er war hungrig und durstig, vollkommen erledigt. Er wollte nicht hier sein. Er wollte zu Hause sein. Wo war zu Hause? Es gab kein Zuhause. Michelle kam dem noch am nächsten.
»Du musst entweder auf der Couch schlafen oder zusammen mit Matt in seinem Zimmer.«
»Mach dir keine Mühe. Ich nehm die Couch.«
»Na ja, Pete will rund um die Uhr fernsehen, wir haben Sky, er schaut Sport.«
»Gut, dann Matts Zimmer. Hab doch gesagt, mach dir keine Mühe.«
Er sah auf. Seine Schwester starrte ihn an, während sie sich eine Zigarette anzündete. Ihm bot sie keine an.
»He, ich bin’s, dein Bruder.«
»Du siehst gar nicht anders aus«, sagte sie schließlich durch eine Rauchwolke. »Älter vielleicht.«
»Ich
bin
älter. Fast fünfundzwanzig.«
»Du meine
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