Des Abends eisige Stille
ihr nicht erlaubt, den Vogel abzulehnen oder wegzugeben. Heute Morgen schien er zu schielen und sich in sein graues Gefieder zu ducken.
»You ain’t nothing but a hound dog«
, sang Shirley ihm vor,
»cryin’ all the time
. Okay, Kumpel, das ist dein Schicksal. Bis später.« Sie schob ein Apfelstück zwischen die Gitterstäbe, zog die Vorhänge halb zu, weil ihre Mutter das immer getan hatte, und verließ das Haus. Manche wohnten nicht gerne so nahe bei der Arbeit, aber sie fand es bequem, nur über ein Rasenstück zu den gegenüberliegenden Gebäuden zu gehen, ohne sich die Mühe machen zu müssen, einen Bus zu erwischen oder ein Auto anzulassen, ja, selbst die Hälfte des Jahres den Mantel daheimlassen zu können.
Shirley war einundvierzig. Sie mochte ihre Arbeit, mochte ihre Wohnung, ging zweimal die Woche zum Linedancing, samstags zum Gesellschaftstanz und sang sonntags im Gospelchor der Redeemer-Kirche, als einzige Weiße dort. Sie war eine glückliche Frau.
Die Frühschicht war ihr am liebsten. Sie mochte die Atmosphäre eines neuen Tages. Es gefiel ihr, Menschen mit einem fröhlichen Gesicht zu wecken. Sie mochte den Geruch der Frühstückszubereitung und das Geräusch der Bohnermaschine in der Eingangshalle und des Staubsaugers auf den Treppen.
Immer noch singend betrat sie den Aufenthaltsraum des Personals.
»Sie haben ihn nicht gefunden.« Der Hausmeister Nev Pacey saß am Tisch, die Morgenzeitung vor sich.
»Oh, Gott schütze ihn, den armen kleinen Kerl. Es ist nicht zu fassen, wozu gottlose Menschen fähig sind.«
»Die Polizei sagt, sie mache sich zunehmend Sorgen um Davids Sicherheit, je mehr Zeit vergeht.«
»Tja, das wundert einen nicht. Ich meine, er ist ja nicht einfach losgetrabt und hat sich verlaufen, oder? Er ist nicht in einen Bus gestiegen und hat seine Oma besucht. Die armen Eltern.«
»Mr. Alan Angus, Oberarzt in der Neurochirurgie am Kreiskrankenhaus Bevham, und seine Frau Marilyn, Anwältin, baten in einem hochemotionalen Fernsehaufruf um Nachrichten über ihren Sohn … ›Wir flehen Sie an, wenn Sie David festhalten, lassen Sie ihn gehen. Melden Sie sich bei der Polizei. Sie wird ihn abholen, wo immer Sie ihn festhalten. Wir möchten, dass er nach Hause kommt. Wir möchten ihn nur wieder bei uns haben.‹«
»Und dann wird behauptet, der Teufel weile nicht mehr auf Erden. Er ist überall!«
Nev blätterte zum Sportteil weiter.
»Na gut, machen wir weiter … Zeit, die kleine Miss Sunshine und Mrs. Muffet zu wecken.«
Shirley hatte Namen für alle Patienten, was die anderen Angestellten irritierend fanden, aber unwillkürlich übernahmen, daher war Mrs. Eileen Day, die sehr langsam an Polyneuritis starb, aus irgendeinem Grund Mrs. Muffet, und Mr. Atkinson, gehirngeschädigt seit einer Bombenexplosion, war der Giantkiller. Martha Serrailler war die kleine Miss Sunshine.
Seit sie ihre Mutter, die an multipler Sklerose gelitten hatte, danach zwei Jahre lang ihre durch einen Schlaganfall gelähmte Tante und dann ihre einzige Schwester Hazel während deren Brustkrebs gepflegt hatte, war Shirley klargeworden, dass die Pflege unheilbar Kranker ein Teil ihres Lebens war, ohne den zu sein sie sich nicht mehr vorstellen konnte. Das Wissen, erwünscht zu sein und gebraucht zu werden, gut darin zu sein und ihrer Tätigkeit mehr als desinteressierte Professionalität entgegenzubringen, tat ihr gut. Shirley brachte Hingabe und Fröhlichkeit mit, alle Vorteile eines Mangels an persönlichem Ehrgeiz und, im Fall von Martha Serrailler, Liebe. Sie hatte das Mädchen geliebt, seit sie hier angefangen hatte, liebte sie, weil es für Shirley ebenso wenig Grund gab, sie nicht zu lieben, wie ein neugeborenes Baby nicht zu lieben. Martha war ein neugeborenes Baby. Sie hatte nicht mehr Verstand, mehr Fähigkeiten oder Persönlichkeit als so ein kleiner Wurm; sie konnte niemandem Leid zufügen, konnte niemals lügen oder stehlen oder betrügen, nie verletzen oder beleidigen. Sie war absolut unschuldig, wie ein unbeschriebenes Blatt. Alles, was sie tat, war unschuldig, jedes Geräusch, das sie machte, jede zufällige Geste ihres Körpers. Ihre Körperfunktionen waren ebenso unschuldig wie die eines Babys. Shirley konnte nicht begreifen, wieso jemand das schwierig oder unappetitlich finden konnte.
Sie ging die Treppe hinauf. Am Ende von Marthas Flur befand sich eine kleine Küche. Shirley würde das Frühstück für sie vorbereiten, den Babybrei und den Schnabelbecher mit lauwarmem Tee, die
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