Des Abends eisige Stille
gewichen, es war grau wie das Gesicht eines Toten, die Augen flach und eingesunken, leblos.
»Gibt es sonst nichts in deinem Leben?«
»Was denn?«
»Weder Lucy noch mich?«
»Natürlich.«
»Sind wir es nicht wert, weiterzuleben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie gesagt, wenn David nach Hause käme, unverletzt und gesund … Würde er dich dann nicht brauchen?«
»Natürlich.«
»Daran hast du nicht gedacht?«
»David ist tot.«
Marilyn legte den Kopf auf das Krankenhausbett und schrie in die Decke, stopfte sie sich in den Mund, damit nichts zu hören war. Sie hatte das dringende Bedürfnis, jemandem wehzutun, und um sich davon abzuhalten, konnte sie nur sich selbst Schmerz zufügen, indem sie versuchte, an der Bettdecke zu ersticken.
Die Klingel ertönte. Eine Schwester und Kate Marshall waren im Zimmer und hinter ihr, redeten sanft auf sie ein, legten ihr die Hände auf die Schultern, zogen sie hoch.
»Marilyn, ist schon gut.« Kate hatte jetzt die Arme um sie gelegt. »Machen Sie sich keine Sorgen …«
Marilyn holte aus und rammte ihren Ellbogen fest in das Gesicht der Polizistin.
Kate stieß einen Schmerzensschrei aus. Das Zimmer war plötzlich voller Menschen und Stimmen.
Sie führten sie hinaus in ein Wartezimmer mit blauen Stühlen. Jemand brachte ihr ein Glas Wasser. Jemand anders kam mit einer Tasse Tee. Marilyn hatte die Arme eng um ihren Körper geschlungen, wiegte sich, wiegte sich, wollte jedes Geräusch von sich fernhalten, jedes Wort, jeden unbeholfenen Tröstungs- oder Beruhigungsversuch. Alans Worte hatten ihre Wirkung getan. Es hatte einen geschützten Ort gegeben, einen Ort mit einem kleinen, hellen Fleck von Wärme und Hoffnung, an den sie sich hatte zurückziehen können. Niemand sonst wusste, dass es diesen Ort gab, aber sie hatte sich darauf verlassen, weil dort die Wahrheit war, nämlich dass David lebte, dass es ihm gutging und er nach Hause kommen würde. Alan hatte die Wand mit einer Klinge durchstoßen, und all das Licht und die Helligkeit und Hoffnung waren hinausgeflossen und schwarz geworden, zu einer immer dunkler werdenden Blutpfütze auf dem Boden geronnen. Der Ort war jetzt leer, die Luft eklig und verpestet. Alan hatte ihre letzte Zuflucht zerstört. Nun gab es keine Hoffnung und keinen Trost mehr. David war tot. Alle anderen hatten es gewusst, nur sie nicht. Jetzt wusste sie es.
Langsam lockerte sie ihren verkrampften Körper. Die Muskeln um ihren Brustkorb und am Rücken brannten, und unter ihrem Herzen saß ein dumpfer Schmerz.
Neben ihr stand eine Krankenschwester, hielt geduldig ein Glas Wasser. Marilyn versuchte es zu nehmen, aber ihre Hand zitterte so stark, dass es ihr nicht gelang, daher setzte ihr die Schwester das Glas an die Lippen und neigte es ein wenig, ließ sie wie ein Kind trinken, das gerade den Umgang mit der Tasse lernt. Marilyn wollte ihr danken, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die Schwester streichelte sie am Arm.
»Kate …«, brachte Marilyn schließlich hervor, ein merkwürdiges Krächzen.
»Sie wird gleich hier sein. Keine Bange.«
Jetzt hob die Schwester die Tasse mit warmem, süßem Tee und hielt sie ihr an die Lippen. Menschen gingen auf dem Flur vorbei. Eine Tür schloss sich mit einem seltsam saugenden Geräusch. Metall klirrte auf Metall. Der Raum war sehr ruhig. An der Wand hing ein Bild von einer Welle, die auf einen Strand schwappte, und eins von einem verschneiten Garten
. »Gestiftet von dem Freundeskreis des Kreiskrankenhauses Bevham.«
Marilyn suchte in ihrer Manteltasche nach einem Taschentuch. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Schwester reichte ihr Papiertücher. Marilyn zuckte vor dem Gedanken an die ungebremste Gewalt zurück, die in ihr aufgewallt war, wie sie sich so wütend gegen die Polizistin gewandt hatte; sie hatte noch nie jemanden geschlagen, keiner Spinne etwas zu Leide getan und keine Schnecke zertreten. Keines ihrer Kinder hatte je auch nur den leichtesten Klaps bekommen. Und doch war sie von einem solchen Zorn erfüllt gewesen, dass sie hätte töten können.
Die Tür zu dem Raum mit den blauen Stühlen und ruhigen Bildern öffnete sich. Ein junger Arzt in einem weißen Kittel kam herein.
»Wie geht es Ihnen, Mrs. Angus?«
Warum waren sie so freundlich zu ihr, redeten so beruhigend, schauten so mitfühlend? Sie sollten sie einsperren, in eine Zwangsjacke stecken, sie mit ihrem Zorn allein lassen – nicht das hier.
Er maß ihren Puls, hielt danach ihre Hand. »Alles in Ordnung.
Weitere Kostenlose Bücher