Des Abends eisige Stille
Wenn Sie dann so weit sind – die Polizei hat ein Auto geschickt, jemand wird Sie nach Hause fahren und bei Ihnen bleiben. Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel verschrieben, Sie können es beim Hinausgehen im Schwesternzimmer abholen … Sie müssen schlafen. Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann?«
Sie blickte in sein Gesicht. Er hatte eine winzige Warze neben dem Auge, eine Narbe an der Oberlippe und sah aus wie fünfzehn. Wie konnte er mit so ruhiger Selbstsicherheit zu ihr sprechen? Wie kam es, dass sie bereit war, alles zu tun, was er ihr auftrug?
Sie schüttelte den Kopf, schaffte es dann, erneut Kates Namen auszusprechen.
»Es geht ihr gut, aber sie hat heute Abend dienstfrei.«
»Was habe ich ihr angetan?«
»Ihr die Nase blutig geschlagen. Kein dauerhafter Schaden.« Er lächelte. »Sie haben einen ganz schön harten Schlag.«
Es machte ihr nichts aus, dass er sie aufzumuntern versuchte, ihr zu helfen versuchte, sich zu entspannen. Es machte ihr nichts aus. Sie lächelte zurück.
Dann sagte sie: »Mein Sohn David ist tot«, und wusste, dass es die schlichte Wahrheit war.
Der junge Arzt beleidigte sie nicht durch einen Widerspruch, redete es ihr auch nicht aus, sondern hielt weiter schweigend ihre Hand und blieb bei ihr, bis ein anderer Polizist kam, sie nach unten zu dem wartenden Auto brachte und nach Hause fuhr.
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37
D er Saal roch nach feuchten Mänteln. Der Platz vor der Blackfriar’s Hall war wie eine Schleuse, und aus der Dachrinne floss Wasser auf jeden, der hereinkam. Viele Menschen waren da, hauptsächlich, dachte Karin McCafferty, um aus dem Nassen zu kommen, weniger aus Interesse an der Ausstellung für das geplante neue Tagesbetreuungsheim. Die für die Erfrischungen zuständigen Hilfskräfte hatten ununterbrochen Kaffee und Kuchen serviert, und die Tische für die Verlosung und die Tombola waren von Anfang an umlagert gewesen. Aber die Leute umrundeten das Modell des Tagesheims ohne allzu großes Interesse, ohne Fragen zu stellen oder sich, mit wenigen Ausnahmen, in das Buch einzutragen, das für diejenigen auslag, die weitere Informationen erhalten wollten. Das Modell war sehr hübsch. Das Tagesheim würde sich an das Imogen House anschließen und Patienten die Möglichkeit bieten, sich zu treffen, um zu malen und zu nähen, Modelle zu bauen, Spiele zu spielen. Es würde Beratungs- und Behandlungsräume geben und einen Wintergarten. Nicht alle Patienten des Hospizes mussten stationär aufgenommen werden, und auch nicht alle stationären Patienten kamen zum Sterben ins Imogen House; darunter waren auch viele bedürftige Personen, die zeitweilig in Pflege genommen wurden, andere erhielten eine Schmerztherapie und kehrten für Wochen und Monate in besserer Verfassung nach Hause zurück. Mit einer Tagesbetreuung würde das Pflegeangebot komplett sein. Karin und Meriel Serrailler waren bereit gewesen, jede nur denkbare Frage zu beantworten, hatten Erklärungen und Broschüren parat und dazu, wie Meriel es ausdrückte, bessere Verkaufssprüche als jeder Gebrauchtwagenhändler. Aber ihnen war kaum eine Frage gestellt worden, und niemand war lange genug geblieben, um sich die Grundidee des Tagesheims verkaufen zu lassen.
Jetzt leerte sich der Saal, die Leute tranken ihren Kaffee aus und waren bereit, sich wieder in den Regen zu wagen. Meriel half beim Abwasch. Karin saß neben dem Modell, trank ihre zweite Tasse Tee und fühlte sich entmutigt.
Kurz danach schaute sie zu einer jungen Frau auf, die gerade hereingekommen war. Sie trug einen cremefarbenen gegürteten Regenmantel und eine hellrosa Kaschmirstola, auf ihrem Haar glänzten Regentropfen, aber es war weder zu feuchten Rattenschwänzen verheddert noch an ihren Kopf geklatscht. Sie war wunderschön. Karin starrte sie an. Sie war vielleicht die schönste Frau, die Karin je gesehen hatte. Schlank, mit perfekter Frisur und sehr großen, dunklen Augen, so dunkel wie ihr Haar.
Karin erhob sich. Das gehörte sich einfach, spürte sie, in Anwesenheit solcher Schönheit.
Die junge Frau kam langsam durch den Saal auf das Modell zu.
»Guten Morgen.«
»Hi.« Also eine Amerikanerin. Der Akzent war liebenswürdig, gebildet, sanft. Die junge Frau streckte die Hand aus. »Sie sind?«
»Karin McCafferty.«
»Lucia Philips. Jetzt erzählen Sie mir doch bitte, was hier vorgeht – wofür dieses Modell steht. Wir sind nur vor dem Regen geflohen und wollten uns das alte Gebäude anschauen, und hier läuft etwas, von dem wir
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