Des Teufels Alternative
Botschaftskanzler stellte keine Fragen. Er kannte Munros Aufgaben und versprach ihm, die Reise zu arrangieren. Der diplomatische Sack, der tatsächlich ein Sack ist oder zumindest aus mehreren Segeltuchbeuteln besteht, wird jeden Mittwoch von Moskau nach London geflogen – und zwar stets mit British Airways, niemals mit Aeroflot. Ein Queen’s Messenger, einer der Männer, die von London aus unter dem Schutz ihrer Insignien mit Krone und Windhund um die Welt fliegen, um Diplomatenpost zu befördern, holt ihn ab. Das streng geheime Material wird in einem Aktenkoffer transportiert, der an das linke Handgelenk des Kuriers gekettet ist; die weniger wichtigen Schriftstücke werden in Segeltuchbeuteln untergebracht, die der Kurier persönlich im Laderaum des Flugzeugs verstaut, wo sie sich dann bereits auf britischem Boden befinden. Auf dem Rückflug von Moskau wird der Kurier stets von einem Botschaftsangehörigen begleitet.
Dieser Begleitdienst ist sehr beliebt, weil man dabei auf einen Sprung nach London kommt, Einkäufe machen und nett ausgehen kann. Der Zweite Sekretär, der diesmal turnusmäßig an der Reihe gewesen wäre, ärgerte sich, stellte aber keine Fragen.
Am folgenden Mittwoch startete der Airbus 300-B der British Airways von dem neuen, zur Olympiade im Jahr 1980 gebauten Flughafen und nahm Kurs auf London. Der neben Munro sitzende Kurier, ein kleiner, eleganter pensionierter Armeemajor, widmete sich sofort seinem Hobby: Er entwarf Kreuzworträtsel für eine große Londoner Tageszeitung.
»Man muß sich mit etwas beschäftigen auf diesen endlosen Flügen«, erklärte er Munro. »Wir haben alle unsere Jet-Hobbys.«
Munro grunzte etwas und betrachtete über die Tragflächenkante hinweg das unter ihnen zurückbleibende Zentrum von Moskau. Irgendwo dort unten in diesem sonnendurchglühten Häusermeer lebte und arbeitete die Frau, die er liebte, inmitten ihrer Landsleute, die sie verraten hatte. Sie war schutzlos und völlig allein.
Betrachtet man Norwegen losgelöst von seinem östlichen Nachbarn Schweden, könnte man glauben, eine riesige, vorgeschichtliche versteinerte Hand vor sich zu haben, die von der Arktis aus nach Dänemark und Großbritannien greift. Es ist eine rechte Hand, die mit der Handfläche nach unten im Meer liegt und den nach Osten weisenden kurzen Daumen an den Zeigefinger gedrückt hält. In dem Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger liegt die norwegische Hauptstadt Oslo.
Im Norden erstrecken die zersplitterten Unterarmknochen sich tief in die Arktis bis Tromsö und Hammerfest und sind so schmal, daß die Entfernung zwischen der norwegischen Küste und der schwedischen Grenze an einigen Stellen nur 65 Kilometer beträgt. Auf einer Reliefkarte sieht die Hand aus, als sei sie von einem gigantischen Götterhammer zerschmettert worden, der Knochen und Knöchelchen in Tausende von Splittern zertrümmert hat. Nirgends ist diese Zertrümmerung auffälliger als an der Westküste, entlang der Handkante.
Dort ist das Land in unzählige Bruchstücke aufgelöst, zwischen die das Meer gedrungen ist, um Tausende von Buchten und Fjorde zu bilden, an denen die Berge steil ins glitzernde Wasser abfallen. Von diesen Fjorden kamen vor eineinhalb Jahrtausenden die Männer eines Stammes, der die besten Seeleute hervorbrachte, die jemals einen Kiel zu Wasser gelassen oder ein Segel vor den Wind gesetzt haben. Bevor ihr Zeitalter endete, segelten sie nach Grönland und Amerika, eroberten Irland, besiedelten Großbritannien und die Normandie, erreichten auf Beutezügen Spanien und Marokko und navigierten zwischen Island und dem Mittelmeer. Sie waren Wikinger, deren Nachfahren noch heute an den norwegischen Küsten leben und fischen.
Ein Mann dieses Schlages war Thor Larsen, Kapitän auf großer Fahrt, der an diesem Nachmittag Mitte Juli in der schwedischen Hauptstadt Stockholm auf dem Rückweg vom Verwaltungsgebäude seiner Reederei zum Hotel am Königsschloß vorbeischritt. Die Entgegenkommenden machten ihm freiwillig Platz, denn er war, blauäugig und bärtig, fast einen Meter neunzig groß und nahm in diesem alten Stadtviertel mit seiner Breite den ganzen Bürgersteig ein. Als Kapitän ohne Schiff trug er Zivil. Trotzdem war er zufrieden, denn seit seinem Besuch in der Hauptverwaltung der Nordia Line am Schiffskai durfte er hoffen, bald ein neues Kommando zu bekommen.
Nachdem er auf Kosten der Reederei an einem sechsmonatigen Fortbildungslehrgang für Computernavigation und Supertankertechnologie
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