Des Teufels Kardinal
Vatikan.«
Harry faltete die Hände und starrte seinen leeren Teller an. Er fühl-te sich benommen, als sei ihm gerade mitgeteilt worden, er leide an einer unheilbaren Krankheit. Aber trotzdem… obwohl die Polizei lauter Indizien zusammengetragen hatte, fehlten ihr hieb- und stich-feste Beweise, wie Pio selbst zugegeben hatte. Und obwohl er den Beamten erzählt hatte, was Danny am Telefon gesagt hatte, war er der einzige, der Dannys Stimme gehört hatte. Eine Stimme, aus der Angst, Schmerz und Verzweiflung gesprochen hatten. Nicht die Stimme eines Mörders, der hilfesuchend um Gnade flehte, sondern die eines Mannes, der in schrecklichen Umständen gefangen war, denen er nicht entrinnen konnte.
Aus irgendwelchen, ihm selbst nicht recht verständlichen Gründen fühlte Harry sich Danny jetzt näher als jemals seit ihrer Kindheit.
Vielleicht, weil sein Bruder ihm endlich die Hand entgegengestreckt hatte. Für Harry schien das wichtiger zu sein, als er bisher geahnt hatte.
»Mr. Addison, es dauert mindestens noch einen Tag, vielleicht sogar länger, bis das Identifizierungsverfahren abgeschlossen ist und die Leiche Ihres Bruders freigegeben werden kann, Sie wohnen während Ihres gesamten Aufenthalts in Rom im Hassler?«
»Ja.«
Pio zog eine Karte aus seiner Geldbörse und legte sie ihm hin. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich über Ihre Bewegungen auf dem laufenden halten würden. Falls Sie die Stadt verlassen. Falls Sie irgendwohin fahren, wo Sie schwer zu erreichen sind.«
Harry steckte die Karte in seine Jackentasche. Er sah zu Pio hin-
über.
»Sie werden keine Mühe haben, mich zu finden.«
40
7
Schlafwagenzug Genf-Rom.
Dienstag, 7. Juli, 1.20 Uhr
Kardinal Nicola Marsciano saß in seinem dunklen Abteil und horchte auf das leise Rattern der Räder, als der Zug schneller wurde und Mailand nach Südosten verließ, um über Florenz nach Rom zu fahren. Draußen erhellte ein verschleierter Mond die Landschaft gerade so weit, daß sie schemenhaft erkennbar war. Der Kardinal dachte einen Augenblick an die römischen Legionäre, die vor zwei Jahrtau-senden unter diesem Mond marschiert waren. Sie waren jetzt Geister, wie er eines Tages einer sein würde, und ihr Leben hatte wie seines kaum eine Spur im Sand der Zeit hinterlassen.
Der Zug war am Vorabend um zwanzig Uhr fünfundzwanzig in Genf abgefahren, hatte die schweizerisch-italienische Grenze kurz nach Mitternacht passiert und würde Rom um acht Uhr morgens erreichen. Eine lange Reise, wenn man überlegte, daß die beiden Städte nur zwei Flugstunden voneinander entfernt waren, aber Marsciano hatte allein sein wollen, um in Ruhe nachdenken zu können.
Obwohl er als Gottesmann normalerweise Priesterkleidung trug, reiste er diesmal in einem Geschäftsanzug, um kein unerwünschtes Aufsehen zu erregen. Aus demselben Grund hatte er sein Schlafwa-genabteil in der ersten Klasse unter dem Namen N. Marsciano reser-vieren lassen. Ehrlich, aber trotzdem auf einfache Weise anonym.
Das Abteil war klein, aber es bot alles, was er brauchte: ein Bett, falls er überhaupt Schlaf finden würde, und die Gelegenheit, mit seinem Mobiltelefon einen Anruf zu empfangen, ohne fürchten zu müssen, er könnte irgendwie abgehört werden.
Während er allein im Dunkeln saß, versuchte er, nicht an Pater Daniel zu denken, an den Tatvorwurf der Polizei, das aufgefundene Beweismaterial, den Bombenanschlag auf den Reisebus. Er wagte nicht, sich mit diesen vergangenen Dingen zu beschäftigen, obwohl er wußte, daß ihm das irgendwann nicht erspart bleiben würde. Sie hatten viel mit seiner Zukunft und mit der Zukunft der Kirche zu tun; sie würden sogar darüber entscheiden, ob beide überleben konnten.
41
Marsciano sah auf seine Digitaluhr, deren Ziffern in der Dunkelheit grünlich leuchteten.
Ein Uhr siebenundzwanzig.
Das Mobiltelefon auf dem Klapptischchen neben ihm blieb stumm.
Marscianos Finger trommelten auf der Armlehne, dann fuhren sie durch sein silbergraues Haar. Schließlich beugte er sich nach vorn und goß den Rest der Flasche Sassicaia in sein Glas. Dieser sehr trockene, sehr gehaltvolle Rotwein war teuer und außerhalb Italiens kaum bekannt. Vor allem deshalb nicht, weil die Italiener ihn als ihr Geheimnis hüteten. Italien war voller Geheimnisse. Und je älter man wurde, desto zahlreicher und gefährlicher schienen sie zu werden.
Vor allem für einen so mächtigen und einflußreichen Mann, wie Marsciano es mit sechzig Jahren war.
Ein Uhr
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