Des Teufels Kardinal
entlang und suchte Zimmer achthundertsechsundachtzig, in dem er sich mit James Hawley, einem Hydrobiologen und Ingenieur aus Walnut Creek, Kalifornien, treffen wollte.
Draußen hatte der Regen inzwischen aufgehört, und die Sonne schien durch Wolkenlücken. Der Rest des Tages würde wie vorhergesagt schwülheiß sein, und dieses Wetter sollte noch mindestens eine Woche anhalten.
Zimmer achthundertsechsundachtzig lag etwa in der Mitte des Korridors, und seine Tür stand einen Spalt weit offen, als Li Wen sie erreichte.
»Mr. Hawley?« fragte er, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen.
Li Wen erhob seine Stimme. »Mr. Hawley?« Wieder war nichts zu hören. Er stieß die Tür auf und trat ein.
Im Zimmer lief eine Nachrichtensendung im Fernsehen, und auf dem Bett lag ein hellgrauer Geschäftsanzug für einen sehr großen, sehr schlanken Mann bereit. Daneben lagen ein kurzärmeliges wei-
ßes Hemd, eine gestreifte Krawatte, Boxershorts und Socken. Links von Li Wen stand die Tür zum Bad halb offen, und er hörte die Dusche laufen.
»Mr. Hawley?«
»Hallo, Mr. Li.« James Hawleys Stimme übertönte das Rauschen des Wassers. »Sie müssen entschuldigen, aber ich bin zu einer dringenden Besprechung ins Landwirtschafts- und Fischereiministerium geladen worden. Ich weiß nicht mal, worum es dabei geht. Aber das spielt keine Rolle, denn alles, was Sie brauchen, liegt in einem Umschlag in der obersten Kommodenschublade. Ich weiß, daß Sie es eilig haben, zu Ihrem Zug zu kommen. Wir setzen uns nächstes Mal bei einem Tee oder einem Drink zusammen.«
Li Wen zögerte, dann trat er an die Kommode und zog die oberste Schublade auf. Darin sah er einen Hotelbriefumschlag mit den hand-201
geschriebenen Buchstaben L. W. liegen. Er griff danach, warf einen raschen Blick in den Umschlag, steckte ihn ein und schloß die Schublade wieder.
»Danke, Mr. Hawley«, sagte er zu der aus dem Bad quellenden Dampfwolke, bevor er rasch das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Der Briefumschlag enthielt genau das, was ihm versprochen worden war, so daß Li Wen sich hier nicht länger aufzuhalten brauchte. Er hatte nur etwas über sieben Minuten Zeit, um das Hotel zu verlassen, sich durch den Verkehr auf der Jianguomennan Avenue zu schlängeln und seinen Zug zu erreichen.
Hätte Li Wen etwas vergessen und wäre deshalb zurückgekommen, hätte er gesehen, wie ein kleiner, stämmiger Chinese vollständig angekleidet das Bad von James Hawleys Hotelzimmer verließ. Er trat ans Fenster und beobachtete, wie Li Wen das Hotel verließ und rasch in Richtung Bahnhof davonging.
Dann wandte er sich vom Fenster ab, zog einen Koffer unter dem Bett hervor, packte James Hawleys sorgfältig auf dem Bett drapier-ten Kleidungsstücke hinein und verließ das Zimmer, dessen Schlüssel er an der Rezeption abgab.
Fünf Minuten später saß er am Steuer seines silbergrauen Opel, bog auf die Chongwenmendongstraße ab und griff dabei nach seinem Mobiltelefon. Chen Yin grinste zufrieden. Offiziell war er ein erfolgreicher Blumenhändler, aber auf einer ganz anderen Ebene beherrschte er als ausgezeichneter Linguist eine ganze Reihe von Sprachen und Dialekten. Besonders gern sprach er amerikanisches Englisch, wie es James Hawley, ein höflicher, aber geschäftlich überlasteter Hydrobiologe und Ingenieur aus Walnut Creek, Kalifornien, vermutlich gesprochen hätte, wenn er tatsächlich existiert hätte.
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Cortona.
Sonntag, den 12. Juli, 4.50 Uhr, 10. 50 Uhr in Peking
»Danke, mein Freund«, sagte Thomas Kind auf englisch. Dann schaltete er sein Mobiltelefon aus und legte es auf den Beifahrersitz.
Chen Yin hatte innerhalb des vorgesehenen Zeitraums angerufen und das erwartete Ergebnis gemeldet. Li Wen hatte die Unterlagen und befand sich auf der Heimfahrt, ohne den angeblichen Amerikaner gesehen zu haben. Chen Yin war gut, zuverlässig. Und er hatte Li Wen gefunden, was nicht leicht gewesen war. Er hatte den idealen, nur allzu bereitwilligen Helfershelfer aufgespürt, der willens und imstande war, ihren Auftrag auszuführen, aber notfalls jederzeit fallengelassen oder einfach liquidiert werden konnte.
Chen Yin, der die Hälfte seines Honorars als Vertrauensbeweis im voraus erhalten hatte, würde die andere Hälfte bekommen, sobald Li Wen seine Arbeit getan hatte. Dann würden beide verschwinden: Li Wen, weil seine Nützlichkeit beendet war und sie nicht riskieren durften, daß eine Spur von ihm zu ihnen zurückführte; Chen Yin, weil er das Land
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