Des Teufels Kardinal
schüttelten; dann machte Pater Bardoni kehrt und ging auf demselben Weg zurück. Der andere Priester, der 211
mit der schwarzen Baskenmütze, sah ihm einen Augenblick nach, bevor er einen anderen Weg einschlug und sich rasch entfernte.
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Castelletti nahm eine Zigarette aus der auf dem Schreibtisch liegenden Packung und wollte sie sich anzünden. Dann sah er, daß Roscani ihn anstarrte.
»Soll ich rausgehen?«
»Nein.«
Roscani biß energisch ein Stück von seiner Karotte ab. »Bitte weiter«, forderte er Castelletti auf. Er sah kurz zu Scala hinüber und konzentrierte sich dann auf das Schwarze Brett an der Wand neben den Fenstern.
Sie saßen in Roscanis Büro, hatten die Jacken ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt und sprachen laut, um das Rattern des asthmatischen Klimageräts zu übertönen. Die beiden Kriminalbeamten informierten Roscani über den Stand ihrer jeweiligen Ermittlungen.
Mit Hilfe der eingeprägten Seriennummer hatte Castelletti festgestellt, daß die Videokassette mit der kurzen Szene mit Harry Addison in einem Geschäft in der Via Frattina gekauft worden war, zu Fuß kaum fünf Minuten vom Hotel Hassler entfernt, in dem der Amerikaner gewohnt hatte.
Scala, der den Auftrag gehabt hatte, die Herkunft von Addisons Kopfverband in dem Videofilm zu ermitteln, hatte in einem Kilometer Umkreis von der Stelle, an der Pio erschossen worden war, sämtliche Straßen abgesucht. In diesem Bereich gab es siebenundzwanzig Ärzte und drei Kliniken. Nirgends war am Nachmittag oder Abend des Tattags ein Mann behandelt worden, auf den Harry Addisons Personenbeschreibung zutraf. Außerdem hatte Roscanis Idee, die Videobilder mit Computerunterstützung zu bearbeiten, um das Tapetenmuster hinter Addison deutlicher sichtbar zu machen, sich als Fehlschlag erwiesen. Die Details ließen sich nicht so deutlich her-ausarbeiten, daß die Suche nach dem Hersteller Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
Roscani knabberte seine Karotte, bemühte sich, den verlockenden Duft von Castellettis Zigarette zu ignorieren, und hörte sich alles an.
Sie hatten ihre Arbeit getan und nichts Verwertbares entdeckt. Damit mußte man bei solchen Ermittlungen rechnen. Viel interessanter war 213
das Schwarze Brett mit den Karteikarten, auf denen die Namen von dreiundzwanzig der vierundzwanzig Opfer des Busattentats standen.
Daneben waren Fotos aufgeklebt: teils neuere Aufnahmen, teils alte Bilder aus Familienalben, mehrere vor der Autopsie gemachte Fotos von Leichen.
Wie Scala und Castelletti hatte Roscani diese Aufnahmen schon hundertmal studiert. Er sah sie beim Einschlafen, beim Rasieren, beim Autofahren vor sich. An wessen Stelle war Pater Daniel Addison getreten, falls er noch lebte? Welchen der dreiundzwanzig anderen hatte er ersetzt?
Die acht Überlebenden und sechzehn Toten waren bis auf einen, der ursprünglich für Pater Daniel gehalten worden war, identifiziert worden. Selbst die fünf bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen hatten mit Hilfe ihres Zahnschemas und anderer ärztlicher Unterlagen eindeutig identifiziert werden können.
Die fehlende Nummer vierundzwanzig ohne Karte, Namen oder Foto war die verkohlte Leiche in dem Sarg, die sie ursprünglich für Pater Daniel Addison gehalten hatten. Ihre Identität blieb vorerst ungeklärt. Genaue Untersuchungen hatten ergeben, daß sie keine unveränderlichen Kennzeichen aufwies. Inzwischen gab es auch ein bruchstückhaftes Zahnschema, aber nichts, mit dem es hätte vergli-chen werden können. Und der Abgleich mit der Liste aller als vermißt gemeldeten Personen war ergebnislos geblieben. Trotzdem mußte irgendwo jemand verschwunden sein. Ein Mann Ende Dreißig bis Anfang Vierzig, Größe ungefähr ein Meter achtzig, Gewicht et-wa…
Roscani starrte plötzlich seine Kriminalbeamten an.
»Was wäre, wenn in dem Bus fünfundzwanzig Menschen statt vierundzwanzig gesessen hätten? Wer hat in dem allgemeinen Durcheinander nach dem Anschlag wissen können, wie viele Opfer es gegeben hat? Die Toten und Verletzten werden in zwei verschiedene Krankenhäuser gebracht. Zusätzliche Ärzte und Krankenschwe-stern werden angefordert. Notarzt- und Krankenwagen kommen mit Sirenengeheul herangerast. Die Verletzten haben Brandwunden, manchen fehlt ein Arm oder ein Bein. In der jeweiligen Notaufnahme herrscht blankes Chaos. Leute rennen durcheinander, schreien, 214
versuchen Ordnung zu schaffen, damit die Verletzten schnellstens versorgt werden können. Wer sitzt da und zählt
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