Des Teufels Kardinal
die Wetterberichte und die Nachrichten ohne Nachrichtenwert, die unaufhörlich aus den Deckenlautspre-chern quollen. Neben ihm verlagerte der Dicke sein Gewicht und rammte Li seinen Ellbogen in die Rippen. Gleichzeitig räusperte die ihm gegenübersitzende alte Frau sich laut und spuckte auf den Boden, genau zwischen den Schuh des Mannes, der im Gang neben ihr stand, und dem des jungen Mannes, der sich auf der anderen Seite neben Li auf die Sitzbank geklemmt hatte.
Li drückte den Ellbogen des Dicken von sich weg und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. In Xi’an würde er umsteigen, hoffentlich in einen weniger überfüllten Zug, und dann nach Hefei und ins Overseas Chinese Hotel weiterfahren, wo er vielleicht ein paar Stunden Schlaf finden konnte. Wie er es schon im Mai und dann wieder im Juni getan hatte und im August wieder tun würde. Das waren die Monate, in denen die Sommerhitze in den Seen und Flüs-217
sen, aus denen die Bevölkerung weiter Gebiete Zentralchinas ihr Trinkwasser bezog, die Algen wuchern ließ.
Li Wen, der früher als außerordentlicher Professor am Hydrobiolo-gischen Institut in Wuhan geforscht hatte, war ein Beamter im mittleren Dienst, ein Wasserkontrolleur der Zentralregierung. Seine Aufgabe war die Überwachung des Bakteriengehalts des Wassers, das in diesem Gebiet nach seiner Reinigung in großen Filteranlagen ins Leitungsnetz eingespeist wurde. Auch dieser Arbeitstag würde wie immer ablaufen. Ankunft gegen fünf Uhr morgens. Tagsüber und vielleicht auch noch morgen die Anlage inspizieren, das Wasser untersuchen, seinen Untersuchungsbericht mit Empfehlungen ans Zentralkomitee schreiben und zur nächsten Anlage weiterreisen. Ein eintöniges Leben: grau, langweilig und weitgehend ereignislos. So war es zumindest bisher gewesen.
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Comer See.
Samstag, 12. Juli, 20.40 Uhr
Das Motorengeräusch wurde von einem Pfeifen zu einem tiefen Brummen, und Schwester Elena Voso spürte, wie das Tragflügelboot langsamer wurde, als sein Rumpf ins Wasser eintauchte. Vor ihnen am Seeufer sah sie eine große graue Steinvilla, auf die das Boot zuhielt. In der Abenddämmerung konnte sie einen Mann erkennen, der mit einem Tau in der Hand auf dem Anlegesteg stand und ihnen ent-gegensah.
Marco kam aus dem Ruderhaus und ging an Deck nach vorn, während das Boot in langsamer Fahrt an den Steg herantrieb. Hinter ihm standen Luca und Pietro auf, um die Haltegurte zu lösen, mit denen die fahrbare Krankentrage auf der zwanzigminütigen Überfahrt gesichert gewesen war. Elena schätzte, daß das große Tragflügelboot im Verkehr zwischen den Uferorten des fünfzig Kilometer langen Sees etwa sechzig Personen befördern konnte. Aber auf dieser Fahrt waren sie die einzigen Reisenden gewesen: sie, Marco, Luca und Pietro.
Und Michael Roark.
Sie hatten die Villa in Cortona gestern kurz nach Mittag in größter Eile verlassen. Zuvor war ein Anruf für Luca gekommen, den Elena entgegengenommen hatte. Luca schlafe, hatte sie gesagt, aber der Anrufer hatte sie aufgefordert, ihn dringend zu wecken, und Luca hatte von der Nebenstelle oben im zweiten Stock aus telefoniert.
»Ihr müßt sofort verschwinden!« hatte Elena die Stimme sagen ge-hört, als sie in die Küche zurückgegangen war, um den Hörer aufzulegen. Sie hatte weiterhorchen wollen, aber Luca wußte, daß sie in der Leitung war, und hatte Elena angewiesen, den Hörer aufzulegen.
Und das hatte sie getan.
Anschließend war Pietro mit seinem Fiat weggefahren und nach vierzig Minuten mit einem neutralen Kastenwagen zurückgekommen. Keine Viertelstunde später waren sie zu fünft mit diesem neuen Wagen davongefahren und hatten den beigen Krankenwagen zu-rückgelassen.
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Sie hatten die Autostrada A 1 nach Norden nach Florenz genommen und waren nach Mailand weitergefahren, wo sie in einer Privatwohnung in einem Vorort die Nacht und den größten Teil des heutigen Tages verbracht hatten. Dort hatte Michael Roark zum erstenmal feste Nahrung zu sich genommen: einen Reispudding, den Marco aus einem kleinen Laden in der Nachbarschaft geholt hatte.
Roark hatte ihn sehr langsam gegessen und zwischendurch immer wieder Wasser getrunken, aber er hatte sich wenigstens nicht übergeben müssen. Trotzdem genügte das natürlich nicht, deshalb hatte sie ihn am Tropf gelassen.
Die in Cortona gekaufte Zeitung mit dem Foto von Pater Daniel Addison hatte sie bei ihrer eiligen Abreise zurückgelassen. Ob Roark bemerkt hatte, wie sie die Zeitung hinter sich
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