Des Teufels Kardinal
Hierher!«
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Comer See.
Montag, den 13. Juli, 16.30 Uhr
Roscani drehte sich nach Scala und Castelletti auf dem Rücksitz um, sah dann kurz zu dem Hubschrauberpiloten hinüber, bevor er wieder nach vorn starrte. Sie waren seit fast drei Stunden unterwegs, entlang der adriatischen Küste nach Norden, über die Städte Ancona, Rimini und Ravenna hinweg, dann landeinwärts in Richtung Mailand und schließlich erneut nach Norden, um hinter den steilen Uferbergen tiefer zu gehen und über den Comer See nach Bellagio zu fliegen.
Unter sich sah er das weiße Kielwasser vieler Motorboote, die das Dunkelblau der Seefläche zerschnitten. Links von ihm war das Seeufer mit einem Dutzend opulenter Villen übersät, deren Parks sich bis zum Wasser hinunterzogen; auf der anderen Seite fielen die Uferberge steil zum See hin ab.
Sie waren in Pescara in der ausgebrannten Wohnung gewesen, als Taglia angerufen hatte. Ein Mann, auf den Pater Daniel Addisons Personenbeschreibung paßte, war gestern abend von einem gemieteten Tragflügelboot zu einer Villa am Comer See gebracht worden.
Der Bootsführer, der ihre Fahndungsaufrufe im Fernsehen gesehen hatte, war sich ziemlich sicher, wen er befördert hatte. Aber er hatte gezögert, sich an die Polizei zu wenden, weil die Villa sehr exklusiv war und er fürchtete, seine Stellung zu verlieren, wenn er einen Prominenten in falschen Verdacht brachte. Heute morgen hatte seine Frau ihn schließlich dazu überredet, seine Beobachtungen zu melden und die Behörden über ihr weiteres Vorgehen selbst entscheiden zu lassen.
Irgendein Prominenter, dachte Roscani, als ihr Pilot nach links ein-kurvte und steil tiefer ging. Wen zum Teufel kümmerte ein Prominenter, wenn sie auf der richtigen Fährte waren? Jetzt kam es mehr denn je auf jede Minute an.
Die in der ausgebrannten Wohnung aufgefundene Tote war Giulia Fanari gewesen, die Frau eines Luca Fanari, der in der Vorwoche bei den später ermordeten Besitzern des Krankentransportunternehmens 234
in Pescara einen Krankenwagen gemietet hatte, wie aus den Unterlagen der Firma hervorging. Signora Fanari war tot gewesen, bevor der Brand ausgebrochen war. Jemand hatte ihr einen spitzen Gegenstand, vermutlich einen Eispicker, unter dem Hinterkopf ins Gehirn gesto-
ßen. Kaltblütig war nicht das richtige Wort dafür. Falls der Psycho-path, der sie ermordet hatte, ihre imaginäre dritte Person gewesen war, konnte Roscani die Möglichkeit, daß dahinter mehrere Täter oder eine Täterin steckte, eliminieren, weil die Tatausführung, zu der viel Kraft gehört hatte, auf einen einzelnen Mann schließen ließ. Und falls der auf der Fährte von Pater Daniel in Pescara gewesen war und dort von seinen Opfern erfahren hatte, wohin der Verletzte gebracht worden war, konnte das nur bedeuten, daß er erheblich näher dran war, Pater Daniel aufzuspüren, als sie selbst.
Während Roscani den Erdboden beobachtete, der ihnen rasch ent-gegenzukommen schien, bevor er plötzlich in einer Staubwolke verschwand und der Hubschrauber am Rand eines Wäldchens am See aufsetzte, betete er deshalb, der Verletzte in der Villa möge wirklich der Priester sein, den sie hoffentlich als erste erreichen würden. Vor dem Mann mit dem Eispicker.
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Das Zielfernrohr war ein Zeiss Diavari C 1,5-4,5X5 durch das Thomas Kind jetzt den dunkelblauen Alfa Romeo verfolgte, der nach Bellagio hinab fuhr. Das Fadenkreuz lag genau über Castellettis Stirnmitte, und ein kleiner Schwenk nach links genügte, um Roscani auf gleiche Weise zu erfassen. Nachdem er noch auf den Carabiniere am Steuer gezielt hatte, war der Wagen vorbei, und Kind trat einen Schritt zurück. Er überlegte, ob er sich wieder S nennen sollte, weil bisher nicht feststand, ob seine Planung oder eine günstige Entwicklung ihn an die Zielperson herankommen lassen würde.
S wie Scharfschütze. Diese Bezeichnung legte er sich jedesmal selbst bei, wenn er sich physisch und psychisch darauf vorbereitete, aus größerer Entfernung zu töten. Angefangen hatte er damit, indem er sich nach seinem ersten Mord selbst in dieses Elitekorps befördert hatte. Nachdem er 1976 in Santiago von einem Bürofenster aus einen faschistischen Soldaten erschossen hatte, als die Truppe das Feuer auf demonstrierende marxistische Studenten eröffnete.
Ein kurzer Schwenk des Zielfernrohrs nach rechts unten zeigte ihm den Befehlsstand der Carabinieri unmittelbar am Tor zu der langen Einfahrt, die zu der palastartigen Villa Lorenzi direkt am
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