Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
gesehen. Wie hätte ich da lachen können?«
Wieder schwieg er.
»Worüber habe ich gelacht?«
»Die Frau hat über ein Missgeschick gelacht.«
»Was für ein Missgeschick?«
Keine Antwort.
»Wieso lebe ich noch?«
»Die Frau hatte Glück.«
»Hast du mich verschont?«
»Man hat aufgepasst. Hat auf die Frau aufgepasst.«
»Du hast auf mich aufgepasst? Warum?«
Wieder schaute er sie mit gesenktem Kopf an, und dann summte er. Es war ein unverständliches Brummen, aber dennoch erkannte Anna schließlich die Melodie von Mines Lieblingslied.
»Warum summst du dieses Lied?«
»Es ist Mamas Lied, und die Frau kennt es auch.«
Anna zog die Augenbrauen zusammen. »Und weil ich dieses Lied kenne, verfolgst du mich?«
»Ja.«
»Ich werde also nicht sterben müssen, weil du auf mich Acht gibst.«
»Man kann nicht immer aufpassen. Wer lacht, muss sterben. Muss sterben, irgendwann. Man hat den Zeitpunkt verschoben, doch man kann nicht verhindern, dass die Frau sterben muss.«
»Wann werde ich sterben?«
»Wenn die Zeit da ist.«
»Wirst du mich umbringen?«
»Man will die Frau beschützen, nicht umbringen.«
»Du hast die anderen Frauen nicht getötet.«
»Man will das nicht, will es gar nicht. Aber es muss sein.«
»Und ich darf nur wegen dieses Liedes leben?« »Mamas Lied. Die Frau soll es singen«, wieder sah er sie mit seinem einen traurigen Auge an.
Anna wusste selbst nicht, wie ihr geschah – aber plötzlich hockte sie sich zu ihm, schaute ihn an, und dann sang sie: »Weiß mir ein Blümlein blaue, von himmelklarem Schein, Es steht in grüner Aue und heißt Vergissnichtmein. Ich kunnt es nimmer …«
»Was tust du da?« Es war Andreas’ stimme.
Kaum hatte sie sich nach ihm umgedreht, als sich der unheimliche Gast in Windeseile erhob und im Nu auf und davon war. Wie ein flinkes Wiesel sprang er über das Gerümpel, rempelte beim Fliehen den verdutzten Andreas an und eilte durch die seitentür davon.
»Bist du verrückt geworden? Warum singst du diesem Irr-sinnigen ein Lied vor?«
»Er war es nicht. Er hat die Frauen nicht getötet.«
Andreas schüttelte bei Annas Worten nur traurig den Kopf. »Ich werde nicht schlau aus dir, Anna Pippel. Erst behauptest du steif und fest, dass er der Mörder sei. Und dann gibt er es sogar zu, und plötzlich bist du von seiner Unschuld überzeugt.«
»Nichts hat er zugegeben, und außerdem hast du doch selbst gesagt…«
»Ich weiß«, unterbrach er sie, »aber ich habe mich getäuscht. Es ist doch eindeutig. Er hat es selbst gesagt. Ich habe euch die ganze Zeit belauscht, Anna, und er sagte, er wolle es nicht, aber er müsse es dennoch machen. Er tötet die Frauen. Glaub mir, so ist es.«
XXXI
Es verging fast eine Woche, in der Andreas mehr um Annas Leben fürchtete als sie selbst. Er war fest davon überzeugt, dass dieser Wahnsinnige zurückkommen würde, und machte sich Vorwürfe, dass er ihm nicht gleich den Schädel eingeschlagen hatte, als er krank und hilflos in ihrer Tenne lag. In seiner Gewissheit wurde er nur noch mehr bestätigt, nachdem er von Anna und auch von Mergel, welcher nun eingeweiht war, die ganze bisherige Geschichte vernommen hatte. Ganz entgegen seiner Gewohnheit hatte Mergel bei dieser Erzählung auf jegliche Ausschmückungen verzichtet und allein die nüchterne und traurige Wahrheit berichtet.
Anna machte sich nicht so viele Sorgen wie ihr Gefährte. Sie war sich zwar noch immer nicht sicher, ob der Genesene tatsächlich der schlächter war. Sicher war sie sich jedoch in einem: Ihr würde dieser Mann kein Leid zufügen. Sie müsste ihn wiederfinden und erneut befragen. Denn er wusste mehr, noch viel mehr.
»Er versteckt sich in einer der Fischerhütten, der Drecksack.« Moosberger war aufgebracht. Wie ein Rasender stopfte er eine Muskete, steckte sich zusätzlich ein langes Messer in den Gürtel und verschwand dann in der Dämmerung. Anna lief hinter ihm her, wollte ihn aufhalten und schrie, dass nicht sie, sondern vielmehr er in Gefahr sei, doch er hörte nicht, sondern schickte sie mit schroffen, aber eindeutigen Worten wieder heim.
Sie kannte ihn mittlerweile recht gut und wusste, dass dieser Mann nur mit Gewalt von etwas abzubringen war, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Und er hatte sich nun in den Kopf gesetzt, diese Bedrohung ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.
Anna wartete noch eine Weile am Seeufer und beobachtete ihn, er lief von Hütte zu Hütte, riss jede Tür auf, schlug sie wieder zu und rannte
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