Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
nickte. »Wir können nichts für ihn tun. Da hilft nur abwarten. Manche schaffen es. Wir sollten ihn hierlassen, ihm vielleicht etwas Wasser und ein paar Decken bringen.«
»Nein«, Anna schüttelte den Kopf. »Er ist gefährlich.«
»Das ist er nicht. Nur weil er eine Missgeburt ist, ist er nicht gleich gefährlich. Wir können ihn nicht in die Gosse werfen und dort krepieren lassen, Anna.«
»Er ist ein Mörder.«
»Ich dachte, du kennst ihn nicht.«
»Ich bin ihm nie begegnet, aber ich weiß, wer er ist. Er ist der Mann, der all die Frauen ermordet hat. Er ist es, der das getan hat, wofür Liese und Therese verbrannt worden sind.«
»Bist du dir da sicher?«
»Nein.«
»Dann lassen wir ihn eine Weile hier. Im Moment kann er eh nichts ausrichten, und wahrscheinlich ist er schon morgen tot. Lass uns ins Haus gehen. Ich werde später noch einmal nach ihm schauen.«
Anna fühlte sich wie aus einem Traum gerissen. Zuerst war sie benebelt, musste sich fangen und ihre wirren Gedanken sortieren. Doch nach einer schlaflosen Nacht fasste sie einen Entschluss.
Sie würde ihn nicht einfach sterben lassen. Zuerst musste er ihr alles sagen. Er musste ihr erzählen, warum er diese zahllosen Grausamkeiten begangen und ausgerechnet sie so lange verfolgt hatte. Was trieb ihn an? Und war er es tatsächlich? Er durfte nicht für immer verschwinden, nicht, bevor Anna sein Rätsel gelöst hatte.
Er lebte noch. Andreas hatte ihm für die Nacht Decken und Wasser gebracht und auch am Morgen noch einmal nach ihm geschaut. Jetzt machten er und Mergel sich auf den Weg zum nahen See, um dort die Enten zu fangen. Mergel glaubte, trotz seiner Behinderung ein Händchen für scheue Tiere zu haben.
»Mit mir wird dir das gelingen«, versprach er dem jungen Mann. Dem Alten hatten sie nichts von ihrer Entdeckung in der Tenne erzählt. Anna wusste, dass Mergel all die schmerzhaften Erinnerungen an Liese Krolls Tod lieber verdrängen wollte, und das Recht dazu gestand sie ihm zu.
»Magst du uns nicht lieber begleiten, Anna?« Andreas wollte sie aus gutem Grund nicht allein im Haus lassen.
»So weit seid ihr ja nicht fort. Falls mich jemand holen kommt, schreie ich nach euch.«
»Nun gut. Es dauert ja nicht lange.«
Dann verschwanden sie endlich.
Er lag noch immer dort. sie brachte ihm erneut Wasser und ein Stück Brot. Gierig nahm er das Wasser, das Brot wollte er nicht anrühren. Als er getrunken hatte, schlief er ein. Anna ging. Sie würde am nächsten Tag wieder versuchen, mit ihm zu reden.
Drei Tage lang pflegte sie ihn, manchmal begleitete Andreas sie, doch lieber ging Anna allein. sie berührte ihn nicht und versorgte nicht seine Wunden. Sie gab ihm nur zu trinken und schaute ihn an. Doch das reichte: Er genoss und genas.
Anna hatte schon während der Lagerfeuergespräche im Tross erfahren, dass es nur eine einzige vage Hoffnung gab, dieser immer wiederkehrenden Beulenplage lebendig aus den Fängen zu springen. Und dies traf nun im Falle ihres Gastes ein: Die Beulen an der Leiste und in den Achselhöhlen brachen auf. Brachen von allein auf und ergossen ihren übel riechenden, breiig gelben Inhalt auf die Decke, auf welcher der Kranke lag. Und dann verging auch das Fieber, ja, er nahm sogar am Tag darauf Brot an und kam mehr und mehr zu Kräften.
Anna freute sich. Doch gleichzeitig stieg ihre Angst, stieg diese lähmende Angst vor dem Ungewissen, vor der Gefahr, die sie mit Absicht heraufbeschwor, um ihr ins Auge zu blicken und sie zu erkennen. Um sie endlich zu besiegen. Anna wollte Gewissheit, und deshalb war sie glückselig, dass er überlebte.
»Du bist sehr still geworden in den letzten Tagen.« Andreas’ stimme klang streng.
»Wundert es dich? Immerhin scheint er gesund zu werden. Und das heißt, dass du mich vielleicht schon morgen vom Dachbalken abschneiden darfst.«
»Das finde ich nicht lustig, Anna.«
»Es sollte auch kein Scherz sein.«
»Was hast du mit ihm vor?«
»Ich will mit ihm reden. Er soll mir alles sagen, alles. Vor allem soll er mir sagen, warum es meine Schwester treffen musste. Und weshalb er mich verfolgt. Seit Jahren verfolgt.«
»Wenn das stimmt, dann ist es tatsächlich sehr merkwürdig. Ich glaube aber nicht, dass er böse ist.«
»Wie kommst du darauf?« Anna schaute Andreas interessiert an. Sie saßen draußen im Hof, sie hatte den Buttertopf mit Ziegenmilch zwischen ihren Beinen stehen, und er war dabei, eine Pfeife zu schnitzen. Fünf waren bereits fertig, sie waren bei den Soldaten
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