Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
Treffpunkt der Frauen nicht mehr in Frage, da sein Wasser schon seit Monaten verseucht war. Kein Handwerker war mehr im Dorf anzutreffen, kein Bäcker, kein Fischer, kein Müller, kein Schmied – niemand. Alle waren sie tot oder in die Berge geflüchtet.
Entsprechend wenig kümmerte man sich also um den Wiederausbruch der seuche. Die Toten, die sie dahingerafft hatte, wurden verbrannt, die Häuser, in denen sie gewütet hatte, gemieden.
»Andreas! Andreas! Wo steckst du denn?« Anna brauchte Hilfe. Sie war am See gewesen, um dort ein Entenpaar einzufangen, das sich vor wenigen Tagen dort niedergelassen hatte. Doch alleine wollte es ihr nicht gelingen. Schon seit Stunden war Andreas nun in der Tenne, dabei wollte er dort doch nur nach Gegenständen schauen, die sich zum Tausch eigneten.
Es hatte sich im Laufe der Zeit eine Menge Unrat angesammelt, denn immer, wenn man überfallen worden war, wenn Dinge zu Bruch gegangen waren, so hatte man sie beim saubermachen kurzerhand in diesen hintersten Teil des Hauses gebracht und dort liegen lassen. Nun war kaum noch ein Durchkommen, und irgendwo zwischen diesem ganzen Gerümpel musste er doch sein. Anna versuchte, in dem fensterlosen, düsteren Raum etwas zu erkennen.
»Andreas, bist du noch da?«
Das Stöhnen kam aus einer der hintersten und dunkelsten Ecken des Holzschuppens. Von dort, wohin man nur gelangen konnte, wenn man sich in knochenbrecherischer Manier durch zerschlagene Möbel, kaputte Dachziegel und sonstigen scharfkantigen Unrat kämpfte.
Anna lauschte zunächst, um sicherzugehen, dass sie sich nicht täuschte. Ein entsetzlicher schreck durchfuhr sie. Da war etwas, ganz sicher war dort etwas. Etwas Lebendiges, und den Geräuschen nach zu urteilen, die es von sich gab, war es krank oder verletzt. Hatte man ihm etwas angetan? Lag er dort und war verletzt?
Anna zückte ihr Messer und stürmte los, stolpernd und fallend bahnte sie sich einen Weg durch den turmhohen Müll.
Und dann sah sie ihn.
Sie atmete auf. Andreas hockte am Boden und schaute sie stumm an. Vor ihm lag auf einem Lager aus Lumpen ein Lebewesen. Ein Mensch. Doch als Anna ihn näher betrachtete, musste sie feststellen, dass sein Gesicht nicht viele Züge aufwies, die tatsächlich menschlich wirkten. Ein Monstrum war es, vor dem Andreas Moosberger kniete. Wahrhaft ein Monstrum – so dachte Anna.
Der dort lag und im Fieberwahn stöhnte, war nicht alt, groß gewachsen, aber im Gesicht vollkommen entstellt. Sein fast kahler, nur von wenigen, aber dafür langen strähnen bewachsener, schweißnasser schädel war vollkommen deformiert. Überall sah man offene oder schlecht verheilte Pusteln. sein rechtes Auge war unter einem Wust von Narben zugewachsen, das linke hingegen war so groß, dass es gut und gerne die Funktion von zwei Sehorganen übernehmen konnte. Die Farbe war hellblau, fast so wie bei einem Blinden. Doch der Mann war nicht blind, er sah Anna an.
Die Nase war kaum vorhanden, eigentlich bestand sie nur aus zwei Löchern. Der Mund wiederum war groß, viel zu groß für die winzigen Zähne, die er, vom Schüttelfrost geplagt, unentwegt aufeinanderschlug. An seinem Kinn hingen nur wenige blonde Haare – zu dünn, um ein Bart genannt zu werden, zu lang, um diesen Mann bartlos zu nennen. Der Körper war kräftig. Von Verformungen konnte man hier nichts erkennen. Im Gegenteil, dieser Mann verfügte über mehr gesunde Muskulatur als ein junger Dorfschmied.
Anna musterte ihn entsetzt. Hunderte von Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Das war er. Sie war sich ganz sicher. Und er hatte die Pest. Mit Sicherheit hatte er die Pest, deshalb konnte er nicht davonlaufen und lag nun fiebernd hier in der Tenne. Was aber machte Andreas bei ihm? Warum saß er dort und sagte nichts? Und wieso musste das alles jetzt geschehen? Sie hatte die ganze Geschichte verdrängt, hatte nicht mehr an die Sanduhr gedacht, hatte angenommen, dass er am selben Abend gestorben war, an dem auch der Hund zu Tode kam. Aber das war er, das war er mit Sicherheit, denn genauso hatte ihn die Frau beschrieben, von der Pastor Bracht erzählt hatte. Die Frau, die ihn im Wald gesehen hatte. Bracht hatte ihr keinen Glauben geschenkt. Doch sie hatte Recht gehabt, denn hier lag er, und einen solchen wie diesen gab es sicherlich kein zweites Mal.
»Er hat die Pest«, sagte Andreas ruhig. »Er hat die Pest… und er hat nach dir gefragt.«
»Ich kenne ihn nicht«, antwortete sie, ohne den Blick von dem Kranken zu lassen.
Andreas
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