Des Todes Liebste Beute
Gedanke hatte sich kaum festgesetzt, als ein zweiter Mann aus dem Schatten trat und zu Carson hastete. Er sah entsetzt zu, wie der Mann ein Handy aus der Tasche holte. Carson war nicht allein gekommen. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, senkte er erneut den Kopf, richtete das Zielfernrohr auf den anderen Mann und feuerte. Der Mann fiel ohne einen Laut zu Boden, aber Carson zuckte noch. Nun zielte er auf Carsons Brust, drückte erneut ab und sah, wie der Mann zu zappeln aufhörte.
Dann nahm er sein Gewehr und lief davon.
Montag, 23. Februar, 23.35 Uhr
Kristen stand am Fenster, das nach vorne hinausging, und sah, wie Abes Geländewagen auf der Straße davonfuhr. Wieder einer. Aber diesmal war es anders. Der Rächer hatte sein Ziel verfehlt, das Opfer lebte.
Abe hatte sie ungern allein gelassen, aber sie hatte darauf bestanden, und da er seine Pflicht kannte, war er schließlich gefahren. Nun war es still, und sie stand allein und furchtsam in ihrem eigenen Haus. Sie ging in die Küche, um sich Tee zu machen, und die vertrauten Bewegungen des Rituals trösteten sie ein wenig. Dann entdeckte sie die Haarnadeln, die immer noch dort lagen, wo Abe sie hingelegt hatte. Am Samstag. Vor zwei Tagen. Es kam ihr vor wie zwei Wochen. Hier, genau hier, hatte er sie festgehalten, sie zum ersten Mal geküsst und ihr das Gefühl gegeben … am Leben zu sein. Er fehlte ihr – gerade jetzt.
Es klingelte an der Tür, und sie fuhr heftig zusammen. »Lächerlich«, murmelte sie. »Da draußen sitzt ein Cop vor meiner Tür.«
Aber was hat mir das bisher genützt?
Es klingelte wieder, diesmal länger, hartnäckiger. Innerlich fluchend, dass das Waffengesetz eine dreitägige Wartezeit vorschrieb, verließ sie mit zitternden Knien die Küche. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, gab neun-eins-eins ein und legte den Daumen über die Wähltaste. Nur für den Fall. Obwohl sie bezweifelte, dass jemand mit finsteren Absichten so dreist sein würde, erst noch zu klingeln.
Aber es waren schon merkwürdigere Dinge geschehen. In dieser Woche zum Beispiel.
Mir zum Beispiel.
Sie spähte durch den Spion in der Tür und stieß erleichtert den Atem aus. »Kyle«, sagte sie, öffnete die Tür und löschte den Notruf aus ihrem Handy.
Kyle Reagan trat ein. Er war so groß wie seine Söhne und ein stiller Mensch, der die beiden Male, die sie die Reagans besucht hatte, keine zwanzig Wörter an sie gerichtet hatte. Aber sein Lächeln war freundlich, und das Funkeln in seinen blauen Augen hatte ihr jedes Mal das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. Nun musterte er sie ernst, und sie vermutete, dass er nach Stressanzeichen suchte. Es war kein Geheimnis, dass sie sein Haus nicht gerade in bester Laune verlassen hatte. Er hielt ihr eine Tüte hin. »Becca hat Ihnen etwas zu essen geschickt.«
Kristens Lippen zuckten. Essen war eindeutig Beccas Allheilmittel. »Und Abe hat
Sie
geschickt?«
Er zuckte die Achseln. »So ungefähr. Haben Sie Kaffee? Es ist kalt draußen.«
»Ich wollte mir gerade Tee machen.«
Kyle folgte ihr in die Küche und sah schweigend zu, wie sie Tee in die Kanne löffelte. »Wahrscheinlich sollte ich Ihnen nun sagen, dass Sie nicht hätten herkommen sollen«, begann sie. »Aber ich bin tatsächlich froh, dass Sie es getan haben.« Sie verschränkte die Hände auf der Arbeitsfläche. »Ich hasse es, in meinem eigenen Haus Angst haben zu müssen.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. »Und ich werde Ihnen garantiert nicht sagen, dass Sie keine Angst haben sollten, Kristen. Es ist eine sehr menschliche Reaktion und in Ihrem Fall eine sehr sinnvolle. Dadurch bleiben Sie wachsam.«
»Ich habe mir eine Pistole gekauft.«
»Das weiß ich auch. Abe hat es mir erzählt. Er meinte auch, dass Sie eine ziemlich gute Schützin seien.«
Sie lehnte sich an die Theke. »Oh, das meint er?«
»Aber ja. Eigentlich schwärmt jeder in meiner Familie von Ihnen.«
Kristen sah zur Seite. »Ich mag Ihre Familie, Kyle. Und zwar zu sehr, um sie in diese Sache mit hineinziehen zu wollen.«
»Das ist mir klar.« Er betrachtete sie eingehend, ohne ihre Furcht um seine Familie als unnötig abzutun, und ihr Re- spekt für ihn stieg. »Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte er nun.
»Ganz gut, danke.« Der Kessel begann zu pfeifen, und sie nahm ihn vom Herd. »Ich habe das Pflegeheim vorhin noch einmal angerufen.« Während sie neben Abe auf dem Sofa gesessen hatte und sein Arm um ihre Schulter ihr Mut machte. »Ich wollte es selbst von den Pflegern hören.
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