Des Todes Liebste Beute
sah, dass Reagan sie eindringlich musterte, und sie empfand seinen Blick als seltsam tröstend. »Sie haben ihn gar nicht gesehen«, schloss sie leise. »Er hat sie von einem Dach aus erledigt.«
Reagan nickte ernst und sprach dann aus, was alle dachten. »Wir haben es mit einem Scharfschützen zu tun.«
Mia lehnte sich im Stuhl zurück. »Der seine Opfer zunächst durch Schüsse in die Knie am Weglaufen hindert und sie dann bewusstlos schlägt.«
Kristen schauderte. Ihr war plötzlich eiskalt. »Und er beobachtet mich«, sagte sie leise.
Spinelli steckte die Kappe auf seinen Marker.
»Scheiße.«
Donnerstag, 19. Februar, 19.45 Uhr
Die Tafel war über und über mit Spinellis Notizen bedeckt, aber Kristen hatte das niederdrückende Gefühl, sie hätten erst die Spitze des Eisbergs gesehen.
»Jetzt wissen wir also, dass er seine Opfer an einem bestimmten Ort tötet, sie irgendwo anders hinbringt, um sie zu fotografieren und zu säubern, und sie anschließend an einem wieder anderen Ort begräbt.« Kristen starrte an die Tafel. Es war beängstigend zu wissen, dass ein Mann mit Gewehr und Zielfernrohr sie beobachtete, aber mit Hilfe eines Stücks Zitronenkuchen von Reagans Mutter gelang es ihr, die Fassung zu bewahren. Mrs. Reagan war eine gute Köchin – sie konnte es besser als Owen, wie sie zugeben musste.
»Sie vergessen die postmortale Gemächtentnahme«, sagte Mia mit todernster Miene.
Kristen seufzte. »Nein, die vergesse ich keinesfalls.«
Reagan lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. »Die Morde hat er sauber und effizient erledigt. Die Sexualstraftäter haben einen Bonus erhalten.«
»Vielleicht ist er auch ein Opfer«, sagte Jack.
»Oder einer aus seiner Familie ist es«, entgegnete Spinelli.
»Oder beides«, setzte Kristen ruhig hinzu. Sie schaute auf, wich jedoch Abes Blick aus. »Familienmitglieder legen eine ganz andere Form von Opferverhalten an den Tag, das ist so.«
Abe zog die Stirn in Falten. Da war etwas in ihrem Tonfall, das ihn aufhorchen ließ. »Stan Dorsey ist das beste Beispiel dafür«, sagte er. Er hätte gerne gewusst, ob Dorseys Ausbruch noch immer auf sie einwirkte. Er jedenfalls hatte ihn noch nicht verdaut, und er hatte dergleichen schon öfter erlebt. Der Anblick dieser halb wahnsinnigen Augen und die ganzen Waffen … es war nicht anzunehmen, dass Kristen Mayhew so etwas jeden Tag zu sehen bekam.
Ihr Lächeln war distanziert und nicht ganz echt. »Ja, das ist er bestimmt.« Sie wandte sich zu Mia um und von ihm ab, sodass er sich plötzlich ausgeschlossen fühlte, und am liebsten hätte er sie gepackt und zu sich zurückgedreht. Aber natürlich tat er es nicht. »Was hat Miles Westphalen denn dazu gesagt?«
Mia warf ihm über Kristens Schulter einen Blick zu, bevor sie antwortete. »Er ist der Meinung, dass unser Bursche in naher Vergangenheit ein Erlebnis hatte, das zum Zusammenbruch geführt hat. Entweder ist er ein Opfer oder hat in der Familie ein Opfer, wobei das tatsächliche Verbrechen vermutlich schon eine ganze Weile her ist. Irgendetwas muss jedoch kürzlich geschehen sein, das das Verhalten ausgelöst hat.« Mia wandte sich kurz zu Spinelli um, dann widmete sie sich wieder Kristen. »Miles wollte wissen, ob Sie unter Schutz gestellt worden sind.«
Kristen hielt unwillkürlich die Luft an. »Glaubt er, dass es nötig ist?«
Mia zuckte mit keiner Wimper. »Ja.«
Kristen trommelte mit den Fingern auf den Tisch, ertappte sich jedoch dabei und legte die Hand flach auf die Platte. Wenn Abe nicht genau hingesehen hätte, wäre ihm das Zittern der Hand sicherlich entgangen. Kein Wunder, dass sie bei Gericht so gut war. Kristen Mayhew hatte sich hervorragend im Griff. »Er hat mich aber nicht explizit bedroht.«
»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich es unbedingt einfordern, Kris«, sagte Julia ernst. »Der Gedanke an einen Spanner mit Zielfernrohr würde mich schwer nervös machen.«
Ihr Kiefer spannte sich an. »Ich überlege es mir. Im Augenblick denke ich ja gar nicht daran, mich in meinem eigenen Haus wie eine Gefangene fühlen zu müssen. Oder sogar auszuziehen. Was hat Westphalen sonst noch gesagt?«
Mia wusste anscheinend, wann man eine Sache auf sich beruhen lassen musste. »Er fand die Grabsteine interessant.«
»Dann lasst uns darüber reden«, meldete sich Spinelli zu Wort. »Jack, was können Sie uns sagen?«
Julia stand auf. »Ich habe keine weiteren Informationen für Sie, bevor ich nicht mit den Autopsien
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