Des Todes Liebste Beute
16.30 Uhr
»Familie Myers, Kristen. Das Mädchen mit seinem Vater.«
Kristen sah von ihrem Schreibtisch auf und verzog das Gesicht, als die Bewegung ihre Kopfschmerzen verstärkte. Lois sah stirnrunzelnd über ihre Schulter zum Wartebereich.
Die Myers waren Kristens neuster Fall, bei dem es um eine Sexualstraftat ging. Es handelte sich um jene Familie, von der sie Abe Reagan erzählt hatte: Der Vater drängte seine Tochter, die Sache vor Gericht zu bringen, doch das Mädchen wollte nicht. Alles, was Kristen noch brauchte, um dem Tag die Krone aufzusetzen, war ein weiterer Zusammenbruch der Tochter in ihrem Büro. »Ich nehme an, sie werden wohl nicht später wiederkommen, wenn wir sie lieb bitten.«
Lois schnaubte verächtlich. »Nein, das werden sie wohl nicht. Kristen, dieser Vater macht mich nervös. Er wirkt reichlich unausgeglichen. Soll ich die Security anrufen?«
»Ja, bitte. Sie sollen sich für alle Fälle bereithalten. Und Myers kannst du sagen, dass ich in fünf Minuten so weit sein werde. Ich muss das hier eben noch fertig machen.« Teufel – sie wollte an diesem Tag wenigstens
etwas
fertig machen. Ihr Telefon hatte unablässig geklingelt, seit sie von der Pressekonferenz gekommen war. Jeder Reporter der Stadt hatte einen Kommentar von ihr hören wollen.
»Okay, Kristen. Oh, hier.« Lois ließ einen dicken Stapel Papier auf den Tisch fallen. »E-Mails von überall. Einige wollen Informationen, die meisten applaudieren
ihm.
« Sie seufzte. »Wenn du heute gehst, dann nicht allein. Ruf die Sicherheitsleute an und lass dich zum Wagen bringen. Ich verschwinde gleich. Ich habe elende Kopfschmerzen.«
Willkommen im Club,
dachte Kristen und starrte auf den zusammengehefteten Papierstapel. Es gab seit der Konferenz am Nachmittag keinen Nachrichtendienst, der die Geschichte nicht aufgegriffen hatte. Sie war jede halbe Stunde auf CNN gesendet worden, und sogar die Homepage von
Yahoo!
hatte ein Bild von Spinelli und Alden auf dem Podium gebracht. Kristen rieb sich müde die Schläfen.
Sie würde den Termin mit den Myers hinter sich bringen und dann nach Hause gehen. Wer brauchte schon eine überarbeitete Staatsanwältin, wenn es einen ergebenen Diener gab? Vielleicht sollte sie ihm einfach das Aufkehren der Scherben nach jedem verlorenen Fall überlassen, dachte sie sarkastisch. Das würde ihr ein wenig mehr Freizeit einbringen.
Ja, verdammt noch mal, vielleicht konnte sie sogar einmal Urlaub machen!
Ihr Gesicht verzog sich, als sie sich selbst an einem Sandstrand im Badeanzug vorstellte, die Sonnenbrille auf der Nase, ein spannendes Buch im Schoß. Als ob sie schon jemals Urlaub gemacht hätte! Alden drängte sie stets, genau das zu tun, aber die wenigen Male, die sie darum gebeten hatte, hatte er immer einen Grund gefunden, sie doch ins Büro zu bitten.
Und dabei habe ich oft genug für ihn Vertretung gemacht, wenn er in die Ferien gegangen ist.
Der aufkommende Ärger verstärkte das Hämmern in ihrem Schädel, also holte sie tief Luft und konzentrierte sich auf schönere Dinge. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild brechender Wellen und kreischender Möwen, und sie versuchte, sich dorthin zu denken und sich zu entspannen. Das war es jedenfalls, was Therapeuten empfahlen. Hatte sie die einschlägigen Sendungen nicht Nacht für Nacht im Fernsehen verfolgt, als sie vor ein paar Monaten den Holzboden abgeschliffen und neu versiegelt hatte?
Denk dich an deinen Traumort, und alle Sorgen werden verschwinden …
Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Wieder sah sie sich im Liegestuhl, und sie klappte das Buch zu und wandte den Kopf. Neben ihr stand ein zweiter Liegestuhl.
Und darin lag Abe Reagan – gebräunt, muskulös … perfekt. Er spürte ihren Blick, schlug seine erstaunlichen blauen Augen auf und lächelte. Dann legte er seine Hand über ihre.
Kristen fuhr hoch und riss die Augen auf, und ein scharfer Schmerz in ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken.
Verdammt!
Ließ dieser Mann sie denn nie in Ruhe? Er kam mit ihr nach Hause, sah in ihre Schränke, brachte ihr etwas zu essen mit, zerstörte die Arbeitsatmosphäre bei einer Autopsie, und nun drang er auch noch in ihren Kopf ein! Fluchend rieb sie sich die Hand, die von der eingebildeten Berührung kribbelte. Ihr Herz schlug heftig, und sie kämpfte, um die Empfindungen, die sie widerstrebend als Verlangen klassifizierte, wieder dorthin zu drängen, wo sie hingehörten. In den hintersten Winkel ihres Bewusstseins nämlich.
Es
Weitere Kostenlose Bücher