Desiderium
körperlichen Training sprachen. Seit ich ihm eröffnet hatte, dass ich trotz seiner Heimlichtuerei mehrere Portale gefunden hatte, musste ich mir bezüglich meiner mentalen Kräfte nichts mehr anhören.
18:00 Uhr: Abendessen
19:00 Uhr: Alice
Alice und ich sprachen über meinen Alltag.
Am Ende des Gespräches wusste ich, was sie von Jarons und meinen Kämpfen hielt – Begeisterung und die Überzeugung, wir würden dabei nur flirten.
Dass wir später auch noch einmal speziell über Jaron sprachen und ich unser Gespräch mit »Ich glaube, ich habe ein Problem« beendete, reichte, um mich die halbe Nacht wach zu halten.
Freitag (eine weitere Woche später)
08:00 Uhr: Schule
Es war der Tag, an dem ich die meisten Fächer gemeinsam mit Alice hatte. Zwei Stunden Unterricht, in denen ich ihr den Gefallen tat und leise tuschelte oder Nachrichten austauschte, statt zuzuhören. Dazu eine geschwänzte Deutschstunde.
Heimlich verließen wir das Gelände und gingen zwei Straßen weiter ein Eis essen. Auch an diesem Tag war es warm, sodass mir selbst in der Sommerausstattung unserer Schuluniform warm wurde.
»Wie läuft es mit Jaron?«, wollte Alice wissen. »Hast du ihm noch mal Feuer unterm Hintern gemacht?«
»Wörtlich: Nein. Es kommen nur Rauchschwaden, wenn er versucht über etwas nachzudenken.« Seitenhiebe mussten sein!
Alice schnalzte mit der Zunge. Ich schätzte, ich konnte sie nur zufri eden stellen, wenn ich auf der Stelle verkünden würde, dass ich mich unsterblich verliebt hatte. »Habt ihr euch noch einmal berührt?«, wollte sie wissen. In ihre Augen trat die unbändige Neugierde, für die sie bekannt war.
»Wir berühren uns ständig. Oder glaubst du, ich trainiere mit der Luft?«
»Ich formuliere um: Seit ihr euch noch einmal näher gekommen? Hat er dich zum Beispiel noch einmal eingeladen?«
Es konnte nur von Vorteil sein, dass meine mehr oder weniger vorha ndenen Kräfte in der normalen Welt nicht wirkten. Bei meinem Glück hätte sonst die Erde angefangen zu beben.
»Nein«, erklärte ich knapp.
Ich widmete mich meinem Eis, das bereits zu schmelzen begann. Kirscheis. Die Erinnerung an geschlossene Augen und einer Kirsche an meinem Mund verdarb mir fast den Appetit.
Das kann doch nicht möglich sein!
»Möchtest du mir nicht doch irgendetwas erzählen?«, bohrte Alice weiter, als ich ihren Blick auffing.
Ich überlegte mir eine Lüge, obwohl ich eines nicht mehr leugnen konnte: Ich hatte mich verändert – nicht nur seit meinem Einstieg als Auserwählte. Jaron hatte mich verändert.
»Ich …«, begann ich, als das mehrfache Hupen eines Autos mich unterbrach.
Auf der anderen Straßenseite parkte der Wagen meines Großvaters. Er selbst saß auf dem Rücksitz. Ich erkannte es an der Zigarre, die durch das halb heruntergelassene, hintere Fenster hervorlugte.
»Ich glaube, damit ist unsere Unterhaltung beendet.« Ich warf Alice einen entschuldigenden Blick zu, ging hinüber und öffnete die hintere Wagentür. »Was ist los?«, fragte ich meinen Großvater.
Pépé ließ seine Zigarre verschwinden. »Dein Training entfällt heute. Ich möchte mit dir ins Museum fahren.«
»Da musst du schon genauer werden. Es gibt viele Museen in Paris. Die meisten haben wir besucht und keines ist es Wert, dafür meinen Übergang sausen zu lassen.«
»Wir besuchen das, das sogar du in deiner Freizeit besuchst«, erwiderte er spitz. Ich hätte beleidigt sein sollen. Gerade er sollte wissen, dass ich nicht gerade unkultiviert war. »In dem das Gemälde von Julien Durands hängt.«
Ich winkte Alice ein letztes Mal zu und ließ mich auf den freien Platz auf der Rückbank sinken. »Zum Gemälde also«, wiederholte ich betont geschäftsmäßig und schlug ein Bein über das andere.
»Ja«, bestätigte pépé nickend. »Vor einiger Zeit erzählte Monsieur Belliers mir von eurer Begegnung. Du hast mir etwas über diesen Tag verheimlicht.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Nach kurzem Zögern erzählte ich ihm von der Begegnung mit den seltsamen Wesen, die genauso von der Welt der Sehnsüchte fasziniert gewesen waren wie ich. Und dass es vermutlich Sehnsüchte waren, also Opfer der Entführungen. Dass mir das selbst erst in diesem Moment klar wurde, nagte an mir. Das Gefühl zu versagen, Dinge zu übersehen. Ich beruhigte mich damit, dass ich diese Fahrlässigkeit jetzt wieder gutmachen konnte.
»Du kannst sie als Einzige von uns sehen, deshalb möchte ich, dass du gleich mit ihnen
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