Desiderium
nken?«, fragte ich mit trockener Kehle. »Das ist unmöglich!«
Die Erinnerung an meine Reaktion auf das Porträt kehrte mit Wucht zurück. Das Porträt . Etwas, das nur ich gesehen hatte, das nur offen für mich war. Der Spiegel, ein großer, goldener Spiegel. Wie ein perfektes Portal.
Mich überkam das Bedürfnis, mich zu übergeben. Mein Magen rebe llierte. Aber ich fing mich augenblicklich wieder.
»Nein, Ca ssim, ich bin vollkommen nüchtern«, beharrte sie. »Du hast die zweifelhafte Ehre, eine direkte Nachfahrin der stärksten und ältesten Linie zu sein. Und ich bin überzeugt davon, dass du vorbereitet sein solltest, bevor du es nicht mehr kontrollieren kannst. Besonders da dich das Erbe im doppelten Maße betrifft.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
»Du sprichst in Rätseln.« Mein Kopf schmerzte. Das ist unmöglich , sagte ich mir immer und immer wieder. Das kann nicht wahr sein.
» Du hast bestimmt schon einmal die Geschichte gehört, wie sich deine Eltern kennenlernten. Mathieu reiste vor beinahe zwanzig Jahren für einen Sommer nach Deutschland. Bereits nach wenigen Tagen lernte er eine junge Studentin kennen, von der er nach eigener Aussage sofort hin und weg war. Hals über Kopf verliebte er sich in deine Mutter. Es dauerte nicht lange, da brachte er sie mit nach Paris, um sie uns vorzustellen. Seine Nina. Er vergötterte sie, war bereit, alles für sie zu tun und machte ihr bald darauf einen Heiratsantrag, obwohl sie sich nicht einmal ein halbes Jahr kannten.«
»Wo von pépé bekanntermaßen begeistert war«, bemerkte ich mit einem müden Lächeln. Wie oft hatten Noemie und ich unsere Mutter darüber ausgefragt? Wir hatten diese Geschichte geliebt.
Mamé warf mir einen halb verständnisvollen, halb tadelnden Blick zu. »Er hatte Gründe, Mathieu diese Hochzeit ausreden zu wollen.«
»Sie war ihm nicht gut genug, stammte aus einer einfachen F amilie und studierte Pädagogik; sie wollte Grundschullehrerin werden. Keine ausreichende Wahl für den französischen Adel«, erwiderte ich.
»Er hatt e nichts gegen Nina als Person. Genau wie ich hat er sie gemocht, weil sie deinen Vater glücklich machte. Das Problem war ihre Abstammung. Deine Mutter stammt aus einem der angesprochenen Clans. Seit gefühlten Ewigkeiten spielt die Gabe bei ihnen keine Rolle mehr, aber ein letzter Rest lebt bis heute in ihr weiter. Dein Großvater warnte deinen Vater vor möglichen Folgen, die Nachwuchs mit sich bringen würde. Ein Durands, wenn auch kein Auserwählter, und eine weitere Nachfahrin …«
»Aber Noemie und ich sind der Beweis dafür, dass er nicht auf ihn gehört hat.«
»Ja. Und das ist der wahrscheinlichste Grund, warum du es bist und nicht die Tochter der letzten Auserwählten. Bei dir kommt es zum seltenen Fall der Dopplung. Dadurch wirst du stärker sein, mächtiger – vermutlich die mächtigste Auserwählte seit Joseph selbst.«
»Aber wie könnt ihr euch da sicher sein? Du hast gerade selber angedeutet, dass meistens die Kinder der letzten Auserwählten diese Gabe erben würden. Und Vivianne zeigte bereits Anzeichen …«
Späte stens jetzt wusste auch sie, dass ich die Akten gefunden hatte. »Vivianne zeigt Anzeichen, ja. Offenbar ist sie ebenfalls auserwählt.« Das passte zu der letzten Notiz, die ich in meinem aktuellen Ordner gefunden hatte. »Aber sie wird nie so stark sein wie du. Sie wird vermutlich neben einem ausgeprägten Sehnsuchtsgefühl nie mit den … anderen Aspekten zu tun haben, mit denen Auserwählte konfrontiert werden.«
»Andere Aspekte?«, wiederholte ich. Noch immer war die Ske psis in meiner Stimme nicht zu überhören; sie sprach für meinen gesunden Menschenverstand, der gegen das ankämpfte, was mich an Portale und bestimmte Porträts denken ließ. »Hör mal. Das ist wirklich eine nette Geschichte, gut durchdacht wirklich, Respekt. Aber wenn es nichts Atemberaubendes über unsere Familie gibt, ist das auch in Ordnung. Du musst nicht so tun als hätten wir den absoluten Jackpot unter den Stammbäumen gewonnen. Fehlt nur noch Jesus. Nein warte lass mich raten: Er war ein entfernter Cousin eines anderen Vorfahren?«
»Anfangs war ich skeptisch wie du. Aber ich habe an diese Sache bereits zu viel verloren, allem voran meine Tochter. Danielle war, wie du richtig bemerkt hast, diejenige, die vor dir diese Gabe erbte. Vielleicht sollte ich aber auch sagen, sie war diejenige, die den Fluch erbte. Sie war noch keine zwanzig, als sie die Anziehung verspürte
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