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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christin C. Mittler
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und die Welt der Sehnsüchte das erste Mal betrat. In der realen Welt war die Sehnsucht ihr größter Feind, sie war allgegenwärtig; nur dort konnte sie Ruhe finden. Doch haben Auserwählte einmal diese Welt betreten, wird es zu einer Sucht, die ständig kontrolliert werden muss. Nach einiger Zeit entwickelte sie weitere Kräfte. Sie waren mächtig und verlockend, aber sie beanspruchten ihre Gedanken zu sehr. Als sie deshalb versuchte, seltener hinüberzugehen, sich sozusagen einem Entzug unterzog, tat ihr aber auch das nicht gut – sie musste lernen ein Gleichgewicht zu finden. Leider gelang ihr das nicht immer. Anfangs wirkte sie nur abwesend und verträumt, später war es mit Schmerzen verbunden. Und dann hatte sie einen Autounfall …«
    »Du meinst, dass sie ihre Sehnsucht so sehr beschäftigt hat, dass sie den Unfall verursachte, bei dem sie gestorben ist?«
    »Ich befürchte es.«
    Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Das ist nicht gerade die beste Methode, mich für die Sache anzuwerben«, brachte ich hervor.
    Etwas wacklig auf den Beinen erhob meine Großmutter sich und ging auf und ab. »Ich wünschte es wäre anders. Und ich wünschte, hier würde nicht jeder logische Ansatz versagen. Aber so ist es nun einmal. Cassim, du hast nach all den Jahren das Gemälde gesehen – als Einzige. Nun gibt es kein Zurück mehr.«
    »Moment«, unterbrach ich meine Großmutter. »Wenn angeblich nur ich dieses Bild sehen kann, woher wollt ihr dann wissen, dass ich nicht einfach irgendwo hingestarrt habe und verrückt bin? Weshalb erzählt ihr mir erst jetzt davon?«
    » Es gibt einen bestimmten Zeitraum, in dem das Bild oder das wahre Portal sichtbar für jeden wird: Wenn ein Auserwählter nicht länger im Stande ist, seine Aufgabe zu erfüllen. Ich habe gesehen, wo das Porträt hängt und ich weiß, dass du nicht verrückt bist.« Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht ein ‚noch nicht’ heraushörte. »Und um zu deiner berechtigten Frage zu kommen, weshalb du nicht schon vorher etwas davon wissen durftest:
    Es gab häufiger Diskussionen zwischen deinem Großvater und Mathieu über dieses Thema. Dein Vater war zwar eingeweiht, aber ihr wart ihm wichtiger; er hatte Angst um dich und Noemie. Selbst als er erzählte, dass du in der Lage bist, zu erkennen, wenn andere Menschen Sehnsucht empfinden – ein deutliches Anzeichen – wollte er dir nichts sagen.«
    »Und kurz darauf waren wir auf seiner Beerdigung.«
    Mamé zuckte zusammen. »Mathieu hat zwar ebenfalls oft sein Veto eingelegt, aber letztendlich war es deine Mutter, die verhinderte, dass ihr schon vorher davon erfahren habt. Sie akzeptierte, dass eines ihrer Kinder vermutlich anders sein würde, sehr anders, aber sie beschloss, darüber nie ein Wort zu verlieren. Da sie weiß, wie wichtig uns unser Wort ist, ließ sie uns schwören, es nicht zu erzählen, bevor es nicht sein muss. Und wie ich bereits andeutete, verstehe ich es. Ich habe so oft gehört, wie Mitglieder der Familie von ihren Aufgaben zu Grunde gerichtet worden sind. Es ist das 21. Jahrhundert, ich wünschte meine Enkelin würde in einer solch modernen Welt ein halbwegs normales Leben führen können.«
    Seit ich bei meinen Großeltern hatte einziehen müssen, hatte ich verhindert, dass andere sahen, dass ich nichts empfand. Jetzt nutzte ich diese Erfahrung, um mamé nicht sehen zu lassen, dass ich zu zittern begann. Mein Blut schien zu summen, Kälte durchfuhr meinen Körper.
    Alles, was sie mir erzählt hatte, hatte ich nie zuvor gehört, dennoch kam es mir bekannt vor. Alles wirkte wie ein Puzzle, dessen Stücke mit einem Mal zusammenpassten.
    Mamé durchquerte den Raum und ging zur Kommode, über dem das Gemälde hing. Einen Moment lang suchte sie etwas in einer der Schubladen, dann drehte sie sich wieder zu mir um. In der Hand hielt sie so ziemlich das älteste Buch, das ich seit langem gesehen hatte – Bibeln ausgenommen – überdimensional groß und in Leder gebunden. Selbst in dem schwachen Licht sah ich, dass die Seiten vergilbt waren und einige wenige Fettflecken den Einband zierten.
    »Hier drin steht alles andere, was du wissen musst«, erklärte sie und reichte mir das Buch. »Dein Großvater meint zwar, du solltest es noch nicht sehen, aber es könnte dir sicher ein paar Fragen beantworten, auf die ich entweder keine Antwort kenne oder zu müde bin, um sie zu erläutern.« Ein kleines Lächeln sollte mich über dieses Geständnis hinweg sehen lassen.
    Mamé ging und ließ mich

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