Desiderium
Formulierungen erntete ich einen schiefen Blick von meiner Großmutter. Ihrer Meinung nach nahm ich die Geschichten aus der Bibel grundsätzlich nicht ernst genug – mal abgesehen davon, dass ich nicht glaubte, dass jeder Zweite über 100 geworden war und vier Mal so viele Enkelkinder bekommen hatte.
I n diesem einen Fall bedeutete der Schatten, der über ihr Gesicht huschte, etwas anderes:
»Das ist die Version des alten Testamtens.« Aber ganz offensichtlich kommt da mehr , dachte ich. »Josephs Träume und seine Gabe waren außergewöhnlich – ein von Gott gegebenes Talent, möchte ich sagen. Was nicht in der Bibel steht, ist, dass Josephs Träume seine eigenen Sehnsüchte widerspiegelten. Er vernachlässigte sie jedoch lange Zeit, hauptsächlich weil er damit beschäftigt war, dem Pharao zu helfen. Durch die Verdrängung vergiftete er sich selbst; er wurde krank und wusste über Jahre hinweg nicht, wie er sich helfen sollte, bis ihm die Lösung eines Nachts in einem weiteren Traum erschien.
An diesem Punkt sind sich die Quellen uneinig: Entweder ließ er am folgenden Tag die Zauberer des Pharaos zu sich rufen und trug ihnen auf, ein Portal zu schaffen. Oder besagtes Portal stand als ein Geschenk Gottes in seinen Gemächern.«
» Wenn die Kirche jemals davon hören sollte, würden sie wenn überhaupt letzteres akzeptieren. Vermutlich werden sie für euch aber eher wegen Blasphemie den Scheiterhaufen wieder errichten lassen.«
Ohne darauf einzugehen, fuhr sie fort: »Joseph wurde die Möglichkeit geboten, seine größten Sehnsüchte auf dieses Portal zu übertragen. Er fühlte sie noch immer, sie war mächtiger als bei vielen anderen, aber er konnte besser damit umgehen. Gewissermaßen rettete es ihm das Leben, sonst wäre er höchst wahrscheinlich in absehbarer Zeit wahnsinnig geworden.«
Voraussichtlicher Wahnsinn. Das kam mir doch b ekannt vor.
»Aber das Portal, oder viel mehr das, was sich dahinter befand, war viel mächtiger als erwartet. Es wurde aus den größten Sehnsüchten jedes Menschen auf der Erde geschaffen. Dadurch entstanden ganze Landschaften, Berge, Flüsse, Städte, Personen – eine eigene Welt, in der alles in Abhängigkeit von denen war, die sich etwas herbeisehnten. Aus diesem Grund wussten auch die meisten menschlich wirkenden Sehnsüchte nicht, woher sie kamen; sie besaßen keinen freien Willen und existierten nur so lange ihr Mensch, ihr Verbundener es brauchte. Unter den Menschen war Joseph derjenige, der diese Sehnsuchtswelt betreten konnte. Nur er war in der Lage, sie zu beeinflussen«
»Als könnte man sagen, er hat Gott gespielt.« Meine Muskeln verkrampften sich. »Ist es das, was du mir sagen möchtest?« Sie wäre mit Abstand die Letzte gewesen, von der ich so etwas erwartet hätte.
»Derart drastisch würde ich es niemals formulieren. Das wäre die rein ste Blasphemie.«
Ja, natürlich!
»Für gewöhnlich erscheint es wahrscheinlich, dass alles endet, wenn die Sehnsüchte erfüllt sind. Im Falle von Joseph geschah dies durch die Versöhnung mit seiner Familie. Es muss ein beneidenswerter Zustand gewesen sein. Dennoch übertrug sich seine Macht über die Welt der Sehnsüchte ohne dass er es wusste auf seine Nachfahren – und zieht sich seitdem durch die Geschichte der Menschheit. Es war egal in welchem Jahrhundert wer von ihnen wen, wo heiratete, in beinahe jeder Generation gab es eine Person, die sich ihrem Erbe stellen musste.
Nach einiger Zeit begannen sich die Auserwählten auf der g esamten Welt zu verteilen. Sie gründeten eigene Familien. Daraus bildeten sich sogenannte Clans, Splitter der ursprünglichen Familie, die bis zu einem gewissen Maß ebenfalls Einfluss nehmen konnten. Da sie aber nie so stark waren wie die wahren Auserwählten, nahm ihre Macht von Generation zu Generation mehr ab. Heute sind viele ausgestorben und von den wenigen, die noch existieren, sind sich noch weniger ihrer Vergangenheit bewusst. Es gibt nur noch eine Handvoll Familien, in denen Auserwählte oder das, was einer Auserwählten am nächsten kommt, die Regeln sind. Die Familie, in der es in den letzten 2000 Jahren am häufigsten vorgekommen ist, dass ihre Mitglieder die Welt der Sehnsüchte problemlos betreten konnten, sind die Durands’ …«
Ich hatte eine böse Vorahnung, worauf das hinauslaufen würde.
»Cassim, in den letzten Tagen hat sich herausgestellt, dass du die Auserwählte dieser Generation bist.«
Unfähig mich zu bewegen, starrte ich sie an: »Hast du getru
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