Desiderium
sich Dinge und Personen herbeisehnen. Das ist für mich auch eine gewisse Art von Erschaffen.«
Alice hob die Hände. »Ich hab verstanden, was du sagen willst.«
Wir überquerten die Pont Alexandre III . Während unter uns die Seine floss, fragte ich mich, warum wir zu Fuß gingen und nicht wie sonst immer noch weiter mit der Linie 1 fuhren. Vermutlich war das ein erstes Anzeichen dafür, dass Alice bald in ihre Sport- und Abnehmphase kam. Noch immer begleiteten uns viele Menschen, was nicht verwunderlich war. Von hier aus brauchte man keine zehn Minuten bis zur Champs-Élysées . Was wäre ein Besuch in Paris ohne diese Straße zumindest einmal überquert zu haben.
Doch statt der Menschenmenge zu folgen, bog ich ab, ging weiter und weiter, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
»Cassim? Cassim!« Alice brachte mich zum Stehen. »Wo willst du hin?«
Ich hob den Kopf und sah mich um. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wo ich hingegangen war. Wenige Meter von uns entfernt baute sich die Galeries nationales auf.
»An mir ist die Kultur bestimmt nicht vollständig vorbei gegangen, aber eigentlich hatte ich heute andere Pläne als einen Museumsbesuch. Willst du da rein?«, fragte Alice mich.
Wie von selbst nickte ich. »Ja, ich glaube schon.« Wie das Meiste in letzter Zeit kam die Veränderung plötzlich und ohne Vorwarnung. Ich konnte Alice nicht erklären, warum, aber ich wollte dort hin. Es war nicht der Drang, den ich von dem Porträt oder sogar vom Portal kannte, aber etwas, das dem nahe kam.
So viel dazu, dass ich bis auf meine Gespräche mit Alice an diesem Wochenende nichts mit der Welt der Sehnsüchte zu tun haben wollte.
Alice seufzte leise. »Na ja, dort werden wir wenigstens keinen Idioten begegnen.«
Obwohl es aktuell keine besondere Ausstellung gab und es nicht so beliebt war wie der Louvre, war das Museum gut besucht. Und ruhig. Bis auf Schritte, gelegentliches Murmeln und die Erklärungen von sich wichtig machenden Mitarbeitern, die Führungen anboten.
Das Museum war groß mit hohen Hallen und weitläufigen Gängen, die mehr durch von der Decke herabhängenden Lampen erleuchtet wurden als von Fenstern – bei früheren Besuchen hatte man mich darüber aufgeklärt, dass die Gemälde für künstliches Licht weniger anfällig waren als für Sonnenlicht. Die Gemälde verschiedener Künstler hingen an den Wänden. In der Mitte der meisten Gänge standen Skulpturen oder Vitrinen, die größer waren als ich. Und an jeder zweiten Wand fand man natürlich das übliche Schild: Ne pas toucher! Als ob ich so dumm wäre, den Alarm auszulösen, nur weil ich neugierig war.
Bereits nach wenigen Metern überließ ich meinen Füßen die Kontrolle. Alice und ich führten unsere Unterhaltung fort, wechselten jedoch das Thema. Auch wenn unsere gemeinsamen Kurse, die Schule und sogar die Jungs, denen wir dort für gewöhnlich begegneten, für Alice im Gegensatz zu früher nicht halb so interessant zu sein schienen.
Wir hatten uns nicht einmal die Hälfte angesehen, als meine Füße ihr Ziel erreichten:
Ein auf den ersten Blick unscheinbares Gemälde; kaum größer als die Mona Lisa wurde es von den meisten Besuchern kaum bis gar nicht beachtet.
» Mont d’ennui «, murmelte ich. Durch meinen Kopf schossen Bilder, bis mir schwindlig zu werden schien.
»Was für ein Berg?«
»Dieser Berg dort auf dem Bild. Das ist der Mont d’ennui , der höchste Berg in der … dort, wo Jaron lebt.« Nun musste ich mich sehr wohl beherrschen, um das Gemälde, auf dem die Umrisse leicht zu verschwimmen schienen, nicht zu berühren. Wie das Spiegelporträt. Ich entwickelte offenbar eine krankhafte Schwäche für Kunst. »Wenn das der Mont d’ennui ist, dann ist das …« Mit dem nötigen Abstand deutete ich auf den rechten Teil des Bild. »der Südteil der Stadt der Echos. Ja, ich habe diese beiden Türme beim Laufen häufiger aus der Entfernung gesehen. Jemand muss es aus der Erinnerung gemalt haben.«
Erst als Alice mir trotz ihrer schlechten Sprachkenntnisse auf Deutsch antwortete, erkan nte ich, dass ich schon wieder in meiner Muttersprache gesprochen hatte: »Was willst du damit sagen?«
Wir ließen einige Besucher vorbei, ehe ich ihr antwortete: »Das Bild wurde von einem Auserwählten gemalt.«
Zweifel daran waren ausgeschlossen. Ich hätte meine Schwester darauf verwettet, schließlich hatte ich diese Szenerie in den letzten Wochen täglich mit eigenen Augen gesehen.
»Und von welchem?«
Ich beugte mich
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