Desiderium
älteren Herrn darüber, dass ich im Weg stand, bis Alice eine Hand auf meinen Arm legte.
»Komm!«, sagte sie. Wir gingen wenige Schritte, beachteten nichts und niemanden um uns herum. Nur an einem Bild, das weder Form noch Sinn zu haben schien, hielt Alice kurz inne. Ihr gefielen besonders ausgefallene Gemälde.
» Der Kerl muss ja ziemlich schlimm sein, wenn du sogar Jaron vor ihm verteidigst.«
»Ja, die Eingeweihten können einen bis zum Äußersten treiben.« Mein üblicher Sarkasmus war schwächer als sonst.
Wir wandten uns auch von diesem Bild ab und mischten uns unter die anderen. Ich konnte nicht verhindern, einen weiteren Blick auf das Gemälde meines Vorfahren zu werfen, als das nächste Problem seinen Lauf nahm:
Hinter mir bildete sich eine Menschenmenge, ich hörte es; viele, leise Stimmen.
Ich trat einen Schritt bei Seite, um nicht gegen Alice zu stoßen.
»Pass doch auf!«, raunzte prompt eine unfreundliche Stimme.
»Entschuldigung«, nuschelte ich.
Alice blickte auf und sah mich irritierter an als je zuvor – nicht einmal, als ich ihr erzählt hatte, dass manche Menschen für mich leuchteten. »Bei wem entschuldigst du dich?«
»Was soll die Frage? Natürlich bei …« Ich folgte ihrem Blick und spürte das unangenehme Bedürfnis, jemandem die Reste meines Frü hstücks auf die Füße zu spucken.
Hinter mir stand der unfreundliche Mann. Er war nur wenige Jahre älter als ich, aber gekleidet wie in den Neunzehnhundertvierzigern, inklusive knielangem Trenchcoat und kleinem Hut. Das wäre nicht unbedingt etwas Besonderes gewesen, schließlich waren wir in Paris, wenn seine Umrisse nicht immer verschwommener geworden wären.
Das hatte ich bisher erst einmal gesehen: Wenn mein Vater in der Nähe meiner Mutter auftauchte.
Ich schloss die Augen.
Konzentrier dich , sagte Jarons Stimme in meinem Kopf. Nicht einmal mehr da wurde ich Einen von ihnen los. Aber ich tat, was er mir sagte.
Als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich, dass außer Alice, Monsieur Belliers wenige Meter weiter und meiner Wenigkeit nur noch eine handvoll anderer Menschen in diesem Teil des Museums waren. Der Rest – ein beachtlicher Rest – bestand aus was auch immer, nur waren sie noch weniger normal als ich.
Denn normale Menschen flackerten nicht wie schlecht eingestellte Fernseher oder sprachen mit hohler, echoartiger Stimme. Und normale Menschen kamen auch nicht auf einmal wie eine Horde Zombies langsam auf mich zu.
»Cassim! Was ist los?« Ich konnte ihr anhören, dass sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Aber sie konnte es ganz offensichtlich nicht s ehen.
Die Gestalten schienen das zu bemerken. Sie sahen sie nicht an, bewegten sich durch sie hindurch, aber sie erkannten umso deutlicher, dass ich sie sehen konnte. Alle starrten mich an!
Während sie immer näher kamen, öf fneten manche von ihnen den Mund. Ihre Gesichter zeigten unterschiedliche Gefühle: Entsetzen, Angst, Unverständnis. Nachdem die Menge drei weitere Zombieschritte getan hatte, verschwand jede dieser Regungen. Zurück blieb verbreitete Ausdruckslosigkeit. Tote Augen. Nur einige wenige waren davon nicht betroffen. Sie wirkten hoffnungsvoll.
Und noch bevor ich es verhindern konnte, überrollte mich eine ausg eprägte Welle von Angst. Ich vergaß, dass noch andere im Raum waren, ich vergaß, dass ich meinen gesunden Verstand einsetzen musste. Wie ein Kleinkind kniff ich die Augen zusammen.
Das schien sie w ütend zu machen.
»Wir sind hier! «
Meine Augen klappten auf; ich unterdrückte einen Schrei.
Ein kleines Mädchen in einem hellblauen Kleid hatte sich in die erste Reihe gedrückt. Mit ihren zwei geflochtenen Zöpfen erinnerte sie mich an meine Schwester. »Tue etwas! Wir sind hier!«
Auf der anderen Seite des Raumes zersprang eine der Neonrö hren. Ein Licht nach dem anderen flackerte, ging schließlich mit einem Plong aus.
Die menschlichen Bes ucher reagierten irritiert; manche schrien auf – darunter auch Alice.
Ich war wie gelähmt.
Die Blicke der Gestalten wanderten weiter. Fast alle richteten sich auf das Gemälde meines Vorfahren. Sie gaben einen gequälten Laut von sich und fielen in sich zusammen. Einer nach dem anderen sackte zu Boden, verschmolzen bis zur Unkenntlichkeit.
Wir mussten hier raus. Jetzt! Sofort! Unruhig griff ich nach Alice’ Hand. Meine Finger zitterten genau wie ihre.
»Cassim!«, rief Alice mich erneut, dieses Mal lauter. »Bitte sag mir, dass ich mir nur einbilde, dass da irgendetwas an mir
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