Desiderium
und ich waren in eine Ecke gedrängt worden, quetschten uns Schulter an Schulter an alles, was uns Halt geben konnte .
»Kennst du auf die Schnelle irgendein passendes Gebet? Ich glaube, ich sollte Gott danken, dass ich diesen Wahnsinn tagtäglich überlebe«, sa gte Alice, als wir an die Oberfläche zurückgekehrt waren.
»Ist ne Weile her, dass ich das letzte Mal gebetet hab«, entgegnete ich kopfschüttelnd. »Aber man sollte meinen, dass du das gewöhnt bist. Du kennst es nicht anders.«
»Ja, vielleicht, aber ich mag es einfach nicht.«
Ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben, gingen wir durch die Stadt. Dabei dachte ich an einen Spruch, den ich irgendwann einmal gehört hatte, dass New York die Stadt sei, die niemals schliefe. Manchmal glaubte ich, dass das auch für Paris zutraf. Jeder schien ständig in Bewegung, zu Fuß, mit dem Auto, mit Booten über die Se ine. Überall waren Geräusche.
»Weißt du, so cool ich die ganze Geschichte auch finde, eins irritiert mich die ganze Zeit.«
»La ss mich überlegen! Dass an dem Ganzen tatsächlich auch nur ein Funken Wahrheit steckt und dennoch niemand außer den Eingeweihten davon weiß? Ja, das kann ich nachvollziehen.«
Als Alice auf ihre Antwort warten ließ, blickte ich zu ihr herüber. Sie war stehen geblieben und starrte scheinbar grundlos in den Himmel. Doch es brauchte nicht lange, bis ich wusste, wohin genau sie sah: Der Glockenturm, der zwischen den Dächern und vereinzelten Hochhäusern gehörte der Kirche St. Germain-l’Auxerrois. Alice wusste, dass dieser Ort mehr für mich war.
Dort war die Leiche meines Vaters gefunden worden.
Wir tauchten einen knappen Blick, ehe wir weitergingen und uns dem eigentlichen Thema zuwandten:
»Seit wir uns kennen weiß ich, wie religiös deine Familie ist. Was deine Große ltern von sich geben, grenzt ja schon an Kredotionismus – oder wie hieß dieses Wörtlichnehmen der Bibel?«
»Kreationismus«, verbesserte ich sie.
» Meinetwegen. Was ich sagen will: Als sei das nicht gut genug, wird dein Vater vor einer Kirche gefunden. Vor einer Kirche! Und nun heißt es, deine Familie würde über Wissen und manche von ihnen über Kräfte verfügen, die so ziemlich allem widersprechen, was ihr bisher angeblich geglaubt habt. Ich widerspreche nämlich deiner Großmutter. Es klingt wirklich so als würden die Auserwählten Gott spielen.«
»Ruft den Vatikan an, wir müssen alle exkommuniziert werden.«
»Kann ich eigentlich noch irgendetwas sagen, ohne dass du es lächerlich machst?«
»Du wolltest die Wahrheit wissen, leb mit den Konsequenzen!«
Ein paar Meter weiter hielten zwei Reisebusse, der eine mit einem belgischen Kennzeichen, der andere kam aus Österreich. Gruppen von Jugendlichen, ungefähr in unserem Alter, stiegen aus. Ein Mädchen, klein, zierlich, mit schwarzen Haaren und gebräunter Haut, fragte uns nach dem Weg. Ihr Französisch war gut, kein Zweifel, aber sie konnte nicht verbergen, woher sie ursprünglich kam.
»Ihr folgt der Straße bis zum Ende, dann biegt ihr rechts ab. Nehmt am besten ein Tagesticket, ist billiger«, erklärte ich ihr auf Deutsch und ignorierte dabei die Erinnerung an die einzige Person, die sonst auße rhalb der Schule Deutsch mit mir sprach.
» Merci «, erwiderte das Mädchen verwundert.
Sobald sie und ihre Freundinnen verschwunden waren, wandte ich mich, als seien wir nicht unter brochen worden, wieder an Alice. »Ich habe übrigens eine Theorie, warum meine Familie alles tut, was die Kirche sagt.«
»Die da wäre?«
»Schlechtes Gewissen oder Schuld. Meine Familie existiert seit so vielen Generationen. Das ergibt viel Zeit für Fehler und Sünden jeglicher Art, für Größenwahnsinn, Blasphemie, jede Todsünde in ihrer schönsten Form und weiß der Himmel was noch. Meine Vorgänger haben eine ganze Welt erschaffen, geformt und beeinflusst. Ich stimme dir insofern zu, als dass es so klingen könnte, als hätte meine Familie Gott gespielt. Und wenn die Kirche das wüsste, wäre sie mit Sicherheit nicht begeistert. Abgesehen davon, dass wir sogar schon im 17. Jahrhundert Personen in der Familie hatten, die nicht katholisch waren – damals gab es immer Menschen, die deshalb die Nerven verloren haben. Ich persönlich fühle mich nicht berufen, jeden Tag im Beichtstuhl zu sitzen, aber das muss jeder für sich selbst wissen. Aber ich denke, man kann nicht nur meiner Familie den schwarzen Peter zuschieben. Das, was ich bewachen muss, existiert ja nur, weil Menschen
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