Desiderium
ist.«
Alice stand mit dem Rücken an der Wand, wo die zu Klecksen geschrumpften Gesta lten hingen. Zwei von ihnen streiften ihre Haare. Ein weiterer verschwand soeben von ihrem linken Knie.
Ihr gemeinsames neues Ziel war das Gemälde!
Die Wände begannen zu vibrieren, die Vasen wackelten bedrohlich.
Die Kleckse erreichten Juliens Bild. Sie verdeckten die Landschaft, färbten es schwarz. Aus ihren sonderbaren Lauten, wurde ein Keuchen und Saugen, das nicht menschlich war.
» Es sieht so aus, als würden sie versuchen in das Bild zu kommen.« Zum wiederholten Mal sprach ich ohne mein Zutun Deutsch.
Aber es gel ang ihnen nicht. Immer mehr von ihnen drückten gegen das Bild, auch dieses vibrierte, bis es mit einem lauten Krachen herunterfiel.
Endlich setzte der Alarm ein, der Strom kehrte zurück, die Lampen bega nnen zu leuchten. Die Gestalten verwandelten sich zurück und verschwanden so lautlos wie sie gekommen waren.
Ohne groß nachzudenken, packte ich Alice und rannte mit ihr nach draußen. Wir waren die Letzten, die das Museum ungehindert verlassen konnten, bevor die Wachmänner alle Türen versperrten.
Am Abend gab es im Radio einen Bericht über den Vorfall. Die Rede war von einem technischen Defekt, hervorgerufen durch eine beschädigte Stromleitung. Das Gemälde, das den Alarm aktiviert hatte, sei durch die Panikattacke einer älteren Dame heruntergerissen worden. Trotz der ausgefallenen Kameras, deren gesamtes Tagesprotokoll gelöscht worden war, ging man nicht von einem geplanten Einbruch aus. Trotz günstiger Gelegenheit war nichts gestohlen worden.
Noemi e beachtete den Bericht nicht, für die Nachrichten hatte sie nie großes Interesse gezeigt. Pépés Blick hingegen konnte ich auf mir spüren. Monsieur Belliers musste ihm erzählt haben, dass ich ebenfalls anwesend gewesen war.
Dass wir in Noe mies Gegenwart nicht darüber redeten, war mir klar, aber auch später sprachen wir nicht darüber – weil es selbst für eine Auserwählte keine Erklärung gab für das, was passiert war.
9. Es kommt nur selten so, wie man es plant
Nr. 7: Kontrolliere deine Gefühle – immer.
Nach meinem Wochenende mit dem etwas anderen Kulturschock, ging ich das erste Mal seit meiner offiziellen Einführung wieder zur Schule.
Das hohe Gebäude war in den 1930ern erbaut worden. Hinter den dicken, dunklen Mauern hätte man auch gut ein Gefängnis errichten können. Ebenso passten die gelblichen Fenster am vorderen Gebäude dazu, an denen sich einige Vögel verewigt hatten. Dass einige darüber hinaus noch vergittert waren, machte den Eindruck keinesfalls besser.
Etwas abseits von den meisten anderen saß ich auf der Lehne einer der Holzbänke unter dem Vordach. Obwohl es beinahe Sommer war, war der Himmel dunkel. Es regnete wie aus Eimern.
Ich beobachtete einige Schülerinnen, die an mir vorbeigingen. Ich sah von ihnen nichts als die dunkelblauen Blusen und die karierten Röcke der Schuluniform. Auf sich überschlagendem Französisch ließen sie sich über den letzten Modefauxpas eines mehr oder weniger bekannten Prominenten aus. Nicht zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich nichts verpasste, wenn ich mich ihnen nicht anschloss. Auch wenn sie nicht aussahen, als würden sie je durch tiefgreifenden Sehnsüchten für mich leuchten – was für mich auf jeden Fall angenehm wäre.
Zu me iner Linken drückten sich eine Gruppe vorbei, die aussah als hätte sie gerade einen Mord beobachtet – oder viel mehr im Zuge eines Rituals einen begangen. Sie waren ebenfalls nie eine Option gewesen. Bei meinem Glück würden sie mit Flutlichtern um die Wette leuchten.
Eine Berührung an meiner Schulter lenkte meine Aufmerksa mkeit auf eine andere Person.
»Guten Morgen.« Im ersten Augenblick klang Alice’ Stimme gewöhnt fröhlich – nicht passend zu einer Schule, die so viel Negatives bereits von außen ausstrahlte – aber als ich sie ansah, erkannte ich, dass nicht nur ich ein Talent zur Schauspielerei hatte.
Sie sah kränklich aus und schien in den letzten zwei Tagen nicht so nderlich viel geschlafen zu haben – zumindest glaubte ich nicht, dass ihre Augenringe ein Bestandteil ihres Make- ups waren.
»Was für ein Dreckswetter«, bemerkte sie mit einem kurzen Blick zum Himmel. »Hast du gut geschlafen?«
»Zu wenig.« Die Frage sollte lauten, wann ich das letzte Mal gut geschlafen hatte ohne Träume von grellen Farben, Schwindel, meinem Tod, meinem Vater, Jaron – am besten die letzten drei in
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