Desiderium
endlich einmal wieder nicht wie ein unwissender, dummer Junge. Und ohne Cassim war er schlicht besser – er konnte Abkürzungen nehmen ohne darauf zu achten, ob sie ihm folgen konnte; er war nicht daran gebunden, wie viel Zeit sie hatte. Aber das Beste war: Ohne Cassim konnte er klar denken und musste sich ebenso wenig ihren Sarkasmus und Hohn anhören.
Er hatte die Stadt, in der der er die Bibliothek mit Darragh und Cassim durchsucht hatte, betreten – das breite Eingangstor mit dem Steinbogen lag bereits weit hinter ihm. Keine zehn Schritte von ihm entfernt, baute sich eine Kirche aus hellem Stein auf, deren Turmspitze mitsamt Wetterhahn den Himmel zu berühren schien. Die hohen Fenster strahlten in allen Farben des Regenbogens. Cassim hatte ihm einmal erzählt, dass sie oftmals Bilder von Heiligen oder Szenen aus der Bibel darstellten, aber für ihn war es nicht mehr als buntes Glas, das vor Wind und Wetter schützen sollte.
Bevor er von den Auserwählten gehört hatte, war Religion ihm nie ein Begriff gewesen. Sein Verbundener hatte nie gew ollt, dass er in die Kirche ging und er selbst hatte nie Neugierde verspürt, es zu tun.
Er wandte sich nach links und folgte der gepflasterten, überraschend sauberen Hauptstraße, die wie so vieles bis vor kurzem noch anders ausgesehen hatte – voll von Pferdemist und Unebenheiten.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie es sein konnte, dass die Mei sten um ihn herum diese Veränderungen nicht wahrnahmen.
Im nächsten Moment ertappte er sich dabei, darüber nachzudenken, warum Cassim unterbewusst so viel beeinflusste. Woran erinnerte es sie? Als erstes fiel ihm Paris ein, aber das machte keinen Sinn; Paris sah sie jeden Tag. Allerdings überraschte es ihn nicht, dass er nichts Besseres wusste. Cassim war ein großes Rätsel. Seinem Pferd Sprechen beizubringen wäre vermutlich einfacher als zu erfahren, wonach sie sich sehnen könnte.
Noch einmal zwang er sich wieder in die Gegenwart zurück. Er schü ttelte leicht den Kopf und sah sich um.
Einfamilien häuser standen dicht an dicht aneinander. Sie alle waren in hellen Farben angestrichen, hatten einen gepflegten Vorgarten, manche mit Hecken, manche mit Blumenbeeten und einem Gartenzaun. Aus den Augenwinkeln sah er wie zwei junge Mädchen, von denen keine älter als acht sein konnte, lachend zu einer Schaukel liefen.
Vermutlich großer Kinderwunsch oder die Sehnsucht, wieder ein Kind zu sein , dachte er unwillkürlich.
Er war in der richtigen Straße, das wusste er. Jetzt musste er nur noch das richtige Haus finden.
Ohne auf die anderen Kinder zu achten, die allesamt nach draußen kamen, um zu spielen, ging er weiter. Er ignorierte den sonderbaren Stich in seinem Brustkorb, den er bekam, als eines von seiner Mutter gerufen wurde.
Schließlich erreichte er das drittletzte Haus. Es war verlassen. In den Fenstern hingen keine Vorhänge, er sah kein Spielzeug und der Rasen im Vorgarten war höher gewachsen als bei den Nachbarn.
Hier musste die Sehnsucht gelebt haben, die vor einigen Tagen verschwunden war. Hier wollte er sich mit einer Sehnsucht treffen, die möglicherweise Informationen hatte, die ihn weiterbrachten. Vielleicht gab es endlich einen brauchbaren Zeugen.
Aber noch war niemand da.
Er ging zur Haustür und testete, ob abgeschlossen war. Sie war es. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Tür aufzubrechen und sich drinnen umzusehen, aber dann besann er sich. Auch wenn das Haus verlassen war, konnte er nicht einbr echen. Die Gesetze seiner Welt, die schon lange vor Cassims Geburt existiert hatten, verboten es ihm.
Mit einem Seufzer setzte er sich auf die stabile Fensterbank neben der Tür und verschränkte die Arme vor der Brust.
Es dauerte nicht lang, bis er eine untersetzte Gestalt in blauem Wickelkleid auf ihn zueilen sah. Die schwarzen Haare, deren Farbe sie an Darraghs erinnerten, steckten in einem strengen Knoten.
»Bist du Jaron?«, fr agte sie nervös.
Er nickte knapp. Es fiel ihm schwer, seine eigene Nervosität zu verbergen. Er wollte endlich weiterkommen mit den Recherchen. Er wollte endlich wissen, ob und wenn ja was passierte. Er wollte es sein, der den entscheidenden Hinweis bekam.
»Ich habe nicht viel Zeit«, begann sie.
Sie ging gebückt, zog ihr linkes Bein nach. Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich brauche nicht lange«, versprach er, ohne auf ihren Auftritt einz ugehen. »Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen!«
Sie ging an ihm vorbei und schloss die
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