Desiderium
einem Traum zusammen – oder Darragh als Mörder zu haben. Ganz zu schweigen vom Aufwachen, weil ich in diesem Augenblick jedes Mal gegen ein plötzliches Sehnsuchtsgefühl ankämpfen musste.
Ich musste wie ein Jammerlappen klingen!
»Ging mir genauso. Als ich nicht einschlafen konnte, hab ich die Zeit damit verbracht, mir die halbe erste Staffel von Vampire Diaries auf DVD anzusehen.«
»Ist das die Vampirversion mit den Brüdern, wo der eine Tierblut trinkt?«, erkundigte ich mich der Höflichkeit ha lber. Es war eine gute Gelegenheit, Alice eine kleine Freude zu machen.
»Ja, so eine Mischung aus alten Klischees und Neuerungen, aber die Geschichte ist echt spannend.«
Eine Spur Sarkasmus konnte ich nicht verbergen: »Alte Klischees wie nächtliche Besuche, blasse Haut und eine Schwäche für schöne Frauen, die tief in ihrem Innern unglücklich oder schüchtern sind?«
»So ungefähr. Hab ich dir das schon mal erzählt?«
Mit Sicherheit irgendwann mal! »Jaron. In einer der Städte leben die ganzen Fantasiewesen. Es gab oder gibt tatsächlich Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als die Haut von zwei kleinen Beißerchen durchbohrt zu bekommen. Die Letzten, die er gesehen hat, scheinen aber mehr dem Dracula- Typ a la Bram Stoker zu ähneln.«
Im selben Moment wurde mir bewusst, dass ich schon wieder über die Welt der Sehnsüchte gesprochen hatte. Nicht gut! Zwar weckte es ausnahmsweise keine Schmerzen, kein Schwächegefühl, aber das Bild meines Vorfahren tauchte vor mir auf. Die Welt der Sehnsüchte von Julien Durands. Und im nächsten Moment dachte ich an die Gestalten.
Mich überkam ein Zittern, das nichts mit dem schlechten Wetter zu tun hatte.
Es bestand kein Zweifel daran, dass ich wieder Angst empfinden konnte. Doch so ganz hatte ich mich damit noch nicht abgefunden.
Erneut tippte Alice mich an. »Lass uns reingehen, Cassim«, schlug sie vor genau in dem Moment, als es läutete. »Sonst werde ich noch zum Springbrunnen.«
Ich folgte ihr, wobei ich nichts mit meinen Händen anzufangen wusste und deshalb den hoffnungslosen Versuch unternahm, meine Frisur zu richten, während Alice und ich uns anschwiegen. Sie schien das Thema Vampire in meiner zweiten Welt ausweiten zu wollen, aber sie tat es nicht.
Wir durchquerten das abgerundete Foyer, das trotz des dunklen Bodens, der großen Pinnwände aus Kork und dem großen Kreuz über der Tür zum Sekretariat freundlicher wirkte als es von außen vermuten ließ. Zur Belustigung unserer Mitschüler stolperte Alice auf ihrem Weg und riss beinahe drei Leute aus meinem Biologiekurs zu Boden. Sie tat so als sei nichts gewesen.
Da unser Kursraum noch verschlossen war, setzten wir uns auf eine der breiten Fensterbänke. Für etwa eine Minute brach die Sonne durch die Wolken und wärmte unsere Rücken, ehe das triste Grau wieder alles überschattete. Irgendjemand schaltete die Deckenlampe ein, die wie eine Fliege summte.
»Ich hab mich wohl geirrt, als ich sagte, dass du ausgeglichener wirkst«, bemerkte Alice schließlich leise, den Blick unverwandt auf unsere Mitschüler gerichtet. »Eher mieser.«
Sie meinte nicht nur mein Äußeres – ich sah kaum besser aus als sie. Selbst meine Schuluniform schien trostlos an mir herunterzuhängen. In mir sah es genauso aus: Von einem Moment auf den anderen wurde mein Herzschlag unregelmäßig; von Sekunde zu Sekunde fiel es mir schwerer, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Warum jetzt auf einmal?
Es erinnerte mich an einen Nachmittag, als ich dank Jaron meine Zeit beinahe überschritten hatte. Er hatte es als eine Art Test betrachtet, ich als Folter.
Bemüht mich von meinem plötzlichen Drang, in die Sehnsuchtswelt zu gehen, nicht beherrschen zu lassen, konzentrierte ich mich weiterhin auf Alice. Ich ertappte mich dabei, ihr gegenüber genau wie bei meiner Schwester einen Beschützerinstinkt zu entwickeln. Wer wusste denn schon, ob ihr in meiner Gegenwart nicht noch einmal so etwas passieren sollte wie im Museum – oder noch Schlimmeres.
Nun wanderten meine Gedanken doch wieder zurück zu der Szenerie, wie die Gestalten versucht hatten, in das Bild zu kommen.
Was waren sie? Wie waren sie dort hin gekommen? Und warum war ich die absolut Einzige, die sie sehen konnte? Nicht nur der einzige Mensch, sondern auch unter meinen ach so tollen, teils berühmten Vorfahren. Ich hatte seit meinem Trainingsbeginn den Lebenslauf fast aller gelesen und bei keinem war etwas aufgetaucht, was dazu gepasst hätte.
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