Desiderium
legte eine besondere Be tonung auf das erste Wort »musste ich lernen. Wir haben bald eine wichtige Prüfung.« Mein Blick bohrte sich in den meiner Großmutter. »Anschließend war ich noch etwas im Fitness- Studio, um zu trainieren. Meine Ausdauer hat sich deutlich gesteigert.«
Ich spürte , wie sich alles in mir verkrampfte; wusste jedoch nicht sicher, ob es an unterdrückter Anspannung oder Sehnsucht lag. Seit ich im Keller gelandet war, spürte ich das Verlangen, zurückzukehren.
Sonderbarerweise war ich mir, ohne überhaupt darüber nachg edacht zu haben, plötzlich bewusst, dass auch Jaron neugierig war; er sich aber nicht traute, sich das Buch genauer anzusehen.
»Sehr schön«, erwiderte meine Großmutter wie aufs Stichwort.
Noemie verdrehte die Augen und widmete sich wieder ihrem Essen.
Draußen in der Eingangshalle gab es einen Tumult. Eine überdrehte Sekunde lang war ich mir sicher, Jaron oder Darragh würden durch die Tür stürmen.
Natürlich war es keine Sehnsucht . Aber dennoch niemand, der sich außerhalb eines gewissen Bereiches frei bewegen durfte:
» Maman !«, rief Noemie überrascht.
In der Tür stand meine Mutter, in Jeans und eine Bluse gekleidet. »Du hast mir geschworen, dass du alles in deiner Macht stehende tun wirst, um sie zu beschützen«, schrie sie pépé an. Noemie und mich beachtete sie dabei nicht.
»Nina …«, begann mein Großvater, doch meine Mutter ließ ihn nicht zu Ende sprechen.
»Du hast gesagt, wenn eine der beiden es sein wird, kümmerst du dich darum. Aber du treibst sie noch dazu an …«
Ich spürte, dass ich blass wurde. Ich sah Noemie an, aber sie war zu geschockt, meine Mutter außerhalb der Klinik zu sehen, um zuzuhören.
»Ariane«, rief mamé die Haushälterin, während meine Mutter und mein Großvater sich anschrien. »Ariane, rufen Sie im Sanatorium an.« Mamé warf Noemie und mir einen mitleidigen Blick zu. »Geben Sie Bescheid, dass eine ihrer Patientinnen ausgebrochen ist.«
Ariane tat sofort, was man ihr sagte.
Nach ein paar Minuten kam Noemie zu mir. Wie an dem Tag, als man meine Mutter eingewiesen hatte, legte sie die Arme um mich, während meine Mutter weiter schrie und mit jedem Wort lauter und unbeherrschter wurde.
Ich tröstete meine Schwester, obwohl mein Mitgefühl noch immer nicht ganz echt war.
»Was macht sie hier? Wovon redet sie?«
Vor Jaron hätte ich es niemals zugegeben, aber in diesem Moment fiel es mir das erste Mal seit drei Jahren schwer zu lügen: »Ich glaub e, sie vermisst uns zu sehr und ist deshalb hierher gekommen«, sagte ich ihr und fühlte, wie sich ein ekelerregender Geschmack in meinem Mund ansammelte. »Sie denkt sich Gründe aus, pépé schlecht zu machen, weil sie es nicht erträgt, dass er sich um uns kümmern darf, sie aber nicht. Alles, was sie zu ihm gesagt hat, hat sie sich eingebildet.«
11. Mitleid für die Verstorbenen
Entgegen dem Plan, den Darragh ihnen für die nächsten Wochen mitgeteilt hatte, standen Jaron und Cassim sich bereits am nächsten Morgen auf dem Trainingsplatz gegenüber.
»Es ist nicht das erste Mal, das ich die Schule schwänze«, erklärte Ca ssim schulterzuckend.
Jaron grinste. »Aber zum ersten Mal hat dein Schwänzen nichts mit deinem Vater zu tun.« Sie hatte ihm gegenüber schon einmal nebenbei fallen lassen, dass sie nach dem Tod ihres Vaters andere Dinge für wichtiger gehalten hatte.
»Zum er sten Mal hat es einen überflüssigen Nebeneffekt: Deine Anwesenheit«, erwiderte Cassim mit demselben unechten Grinsen, das sie so oft aufsetzte, dann schritt sie die Turngeräte entlang und kletterte auf den Schwebebalken. Sie machte einen schmerzhaft aussehenden Spagat, ehe sie in einen Handstand überging, sich vorn über beugte, um dann wieder auf beiden Füßen auf der Matte darunter zu landen. »Es hat natürlich etwas mit meinem Vater zu tun«, fuhr sie ungehindert fort. »in gewisser Weise. Schon vergessen?«
» Wie könnte ich?! Auch wenn wir über den Tod deines Vaters momentan genauso wenig wissen wie über die Verschwundenen.« So weit Jaron informiert war, hatten Darraghs Männer ihre Zeugin bisher nicht finden können. Die Befürchtung, sie sei unfreiwillig von der Bildfläche verschwunden, verstärkte sich.
»Noch etwas, das du nicht vergessen solltest : Ich bin hier, um das zu ändern. Hast du das Buch dabei?«
»Du meinst das Feuerding? Natürlich. Aber sieh dir meine Fi nger an!« Mit betont schmerzverzerrtem Gesicht streckte er ihr seine Hände
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